University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


Notre Dame, 22. Februar 1964

Der hohe Lebensstandard überrascht den Besucher aus Europa immer wieder, da er hier fast in jeder Hinsicht drei- bis viermal höher als in den meisten europäischen Ländern ist. Bei einem durchschnittlichen Einkommen von $800 im Monat braucht eine vierköpfige Familie weniger als die Hälfte für den Lebensunterhalt.

Der Mittelwesten wirkt wohltuend durch seinen ausgeglichenen, gediegenen Lebensstil. Diese Region der Vereinigten Staaten hat einen sehr gesunden Kern. Der Mittelwesten ist ein aufstrebendes Gebiet, das ausserhalb der Vereinigten Staaten noch wenig bekannt ist. Es ist erstaunlich, was hier in kaum eineinhalb Jahrhunderten geschaffen wurde. Die um die Jahrhundertwende noch wenig besiedelten weiten Landstriche von den Appalachen im Osten bis zu den Hochebenen im Westen weisen heute zahlreiche aufstrebende junge Gemeinwesen auf. Das kulturelle Leben konzentriert sich auf die Universitäten und Colleges, die immer mehr an Bedeutung gewinnen. Neben den traditionellen Bildungsinstitutionen im Osten sind hier neue Universitäten und Colleges entstanden, die den Vergleich mit denen an der Ostküste nicht zu scheuen brauchen. Vor allem ist zu bemerken, dass eine grosszügige Baupolitik für die Zukunft plant. Das neue, gerade fertiggestellte 14-Stock hohe und nach modernsten Gesichtspunkten ausgestattete Gebäude der Universitätsbibliothek von Notre Dame gibt dafür ein beredtes Zeugnis. Es lässt sich allgemein feststellen, das hier eine überraschend hohe Anzahl an Schulen und Kirchen neu gebaut wird. Hier im St. Joseph County fallen die vielen im modernen Stil neugebauten Gotteshäuser auf. Der Besuch der Kirchen aller Religionsgemeinschaften ist an Sonntagen auffallend gut.

Notre Dame, 22. Februar 1964

Die Gliederung nach ethnischer Herkunft und der “Melting Pot”

Die Gliederung nach ethnischer Herkunft tritt hier noch klar in Erscheinung. Die Stadt South Bend hat eine sehr starke polnische und ungarische Bevölkerung, die einen eigenen Stadtteil bildet. Davon abgegrenzt ist der mehr auf Kleinfarmen beschränkte deutsche Besiedlungsteil gegen Nordwestern. Der Farbigensektor konzentriert sich dagegen auf die industrielle Westseite der Stadt. Nach einem ungeschriebenen Gesetz leben diese Bevölkerungsgruppen ohne wesentliche Spannungen getrennt neben- und zugleich miteinander, wobei ihre enthnischen Eigenarten zum Grossteil bewahrt werden. Als ein wesentliches Bestimmungsmerkmal der amerikanischen Zivilisation wäre es festzustellen, inwieweit die verschiedenen Einwanderungsgruppen ihre ethnischen Eigenarten bewahrt, und inwieweit sie sich der amerikanischen Gesamtkultur, dem “mainstream” angepasst haben.

Die rascheste Anpassung erfolgte an die englische Sprache, wobei die Muttersprache meistens schon in der zweiten Generation verloren ging. Erziehung, Rechtswesen und gesellschaftliche Umgangsformen sind neben Sprache und Literatur vorwiegend englischen Ursprungs. Dagegen haben sich die religiösen Bindungen, die Lebensgewohnheiten im Heim, Nahrung, Speisen und Bräuche vom Ursprungsland über Generationen erhalten.

Melting Pot (Schmelztigel): Bewahrung vs. Assimilation

a) Bewahrende Elemente

Religion: Die Bevölkerung irischer, polnischer, ungarischer, italienischer, französischer sowie spanisch-lateinamerikanischer Herkunft in Amerika gehört überwiegend der katholischen Kirche an. Amerikaner norwegischer und schwedischer Herkunft sind meistens Lutheraner, während Amerikaner griechischer Abstammung sich zur Orthodoxen Kirche bekennen. Im allgemeinen lässt sich feststellen, dass die Religionszugehörigkeit im Wesentlichen vom Herkunftsland bestimmt wird und über Generationen hinaus erhalten bleibt.

Lebensgewohnheiten und Geschmacksrichtungen im Hause werden vielfach von den Herkunftsländern geprägt. Dazu gehören nationale Speisen, Vorliebe für gewisse Farben, Möbel und Kleider. Besonders erhalten haben sich die Fertigkeiten im Kleingewerbe wie in Restaurationsbetrieben, im Tischler- , Schneider- , Fleischhauer- , Bäckergewerbe sowie im Kunsthandwerk. In der Summe hat dies eine kaum überschaubare Vielfalt an Kunsumgütern in Amerika hervorgebracht.

b) Assimilation, bzw. Anpassung

Rasche Annahme der englischen Sprache, wobei die Muttersprache bereits in der zweiten Generation aufgegeben wird. Neue Einwanderungsgruppen haben immer das Bestreben bekundet, so rasch wie möglich Englisch zu lernen, um im “mainstream” Amerika vorwärtszukommen. Sprachmischungen werden dabei weitgehend vermieden. Dies erklärt auch das Bestreben, sich dem amerikanischen Bildungssystem anzupassen, sowie den hohen Stellenwert, welchen die College Erziehung im amerikanischen Leben einnimmt. Einwanderungsgruppen haben auch eine rasche Anpassung an das amerikanische politische System sowie eine starke Loyalität zum amerikanischen Staat bewiesen. Die staatliche Bindung an das Herkunftsland schwindet meistens im Augenblick der Emigration.

Anpassung an das amerikanische Rechtsdenken und die politische Struktur des Landes sowie die Betonung des persönlichen Freiheitsbegriffes – es gibt kaum nationale Sonderbestrebungen.

Toleranz in der Sprache gegenüber dem Ausländer, der die Sprache lernt und Englisch mit einem starken Akzent spricht.

Der Fremde kommt nicht als Tourist ins Land, sondern wird sofort als volles Mitglied in die Gesellschaft aufgenommen; im Wesentlichen vorurteilsfrei.

Trotz der kommerziellen Konformatät bleibt genügend Raum für individuelle Eigenheiten.

Notre Dame, 22. Februar 1964

Das Leben hat hier eine wohltuende Ursprünglichkeit und einen unerschütterlichen Zukunftsoptimismus. Hier gibt es noch grosse Entfaltungsmöglichkeiten für die junge Generation.

Chinesisches Neujahr

Amerikaner chinesischer Herkunft feierten Neujahr am 13. Februar. Schulen, Fernsehen und Geschäfte feierten mit ihnen. Aufrufe wie “Celebrate Happy New Year with the Americans of Chinese Descent” luden dazu ein, mitzutun.

Notre Dame, 24. Februar 1964

Die Rassenfrage spitzt sich zu

Die Rassenfrage und die Anzeichen einer wirtschaftlichen Regression sind zur Zeit offenkundige Schwierigkeiten, mit denen die Vereinigten Staaten allgemein fertig werden müssen. In der Rassenfrage ist eine zunehmende Radikalisierung festzustellen.

Das Schliessen der Studebaker Autowerke hat besonders in dieser Gegend das Gespenst der Arbeitslosigkeit heraufbeschworen und für einen grossen Teil der Bevölkerung von South Bend und Mishawaka wirtschaftliche Härten mit sich gebracht. Allerdings scheint die Ursache für das Schliessen der Studebaker Werke mehr Misswirtschaft als die Folge einer generellen Regression zu sein.

Notre Dame, 24. Februar 1964

Dem Astronauten John Glenn wurde von der Senior Class der University of Notre Dame der “Patriot of the Year Award” überreicht. John Glenn machte in seiner Ansprache den Eindruck einer willensstarken und glaubensfesten Persönlichkeit. Die Weltraumfahrt ist hier zur Selbstverständlichkeit geworden.


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