University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


Cambridge, Massachusetts, 1. Juli 1964

The Harvard Summer School looks like an artist colony of French existentialists and pseudo-cosmopolitan Midwesteners.

Die Harvard Sommerschule sieht aus wie eine Künstlerkolonie von französischen Existenzialisten und Leuten aus dem Mittelwesten, die sich wie Grossstädter benehmen.

West Newton, Massachusetts, 3. Juli 1964

The Civil Rights Act Signed into Law

Gestern Abend wurde von Präsident Lyndon B. Johnson das “Civil Rights Act of 1964” unterzeichnet und als “federal law” (Bundesgesetz) in Kraft gesetzt. Damit wurde von der amerikanischen Regierung der entscheidende Schritt getan, um die Beziehungen der Rassen zu normalisieren und der farbigen Minderheit Gleichheit innerhalb der amerikanischen Gesellschaft zu gewähren.

Wesentliche Bestimmungen dieses Gesetzes:

1. To enforce the constitutional right to vote.

Das von der Verfassung garantierte Wahlrecht durchzuführen.

2. Injunctive relief against discrimination in public accommodations.

Gerichtlich gegen die Diskriminierung bei der Benützung von öffentlichen Verkehrsmitteln und Räumlichkeiten helfend einzugreifen.

3. Equality in public facilities and public education. (This means the desegregation of public parks, playgrounds, pools, libraries and public schools.)

Gleichheit bei der Benützung von öffentlichen Einrichtungen und in öffentlichen Schulen. (Dies bedeutet die Aufhebung der Rassentrennung in öffentlichen Parks, Spielplätzen, Schwimmbädern, Bibliotheken und in öffentlichen Schulen.)

4. Equal Employment opportunity.

Chancengleichheit bei der Beschäftigung.

Die Durchführung dieser Bestimmungen wird im Verlaufe der kommenden Jahrzente die amerikanische Gesellschaft grundlegend verändern. Es hat seine besondere symbolische Bedeutung, dass dieses Bürgerrechtsgesetz am Vorabend zum Fourth of July Weekend in Kraft getreten ist.

West Newton, 11. Juli 1964

The Boston Pops Orchestra

Boston und die umliegenden “New England villages” haben im Sommer eine Festspielatmosphäre, wie sie in den Fremdenverkehrsorten in Europa nicht besser sein könnte. Es wird vor allem viel Musik und Theater geboten. Besonders beliebt und in ihrem Programm beachtenswert sind die Esplanadenkonzerte des Boston Pops Orchestra. Die 36. Saison ging gerade zu Ende. Das Konzert unter der Leitung von Arthur Fiedler fand im Freien bei freiem Eintritt in der Hatch Shell am Memorial Drive in der Back Bay vom Charles River statt. Wir hörten eine ausgezeichnete Wiedergabe von Gershwins “Rhapsody in Blue.”

[Arthur Fiedler (1894-1979) wurde in Boston geboren, stammte aber von einer Wiener Musikerfamilie ab. Er übernahm 1930 die Leitung des Boston Pops Orchestra, die er bis zu seinem Tode 1979 beibehielt. Als Dirigent verfügte Fiedler über ein weitgespanntes Repertoire, das von der klassischen bis zur leichten Unterhaltungsmusik reichte. Er brachte mit den Pops bekannte Melodien aus Operette und Musical und dirigierte mit gleichem Elan die Marschmusik von John Philip Sousa. Die Esplanadenkonzerte in Boston zogen Hunderttausende von Menschen an. Fiedler war eine der beliebtesten und erfolgreichsten Figuren, im wahrsten Sinne eine Institution des amerikanischen Musiklebens.]

West Newton, 12. Juli 1964

Salem, Massachusetts

Salem liegt am Nordufer der Massachusetts Bay nor 20 Meilen von Boston entfernt. Die 1626 gegründete Ortschaft zählt zu den ältesten Siedlungen von New England. Salem ist durch die “witchcraft trials” (Hexenprozesse) von 1692 sowie als Geburtsort von Nathaniel Hawthorne (1804-64) bekannt geworden. Die unglücklichen Opfer jener berüchtigten Prozesse mussten ihr Leben am Galgen lassen. Hawthorne, der Autor von The Scarlet Letter (1850), wurde hier geboren und hat den Grossteil seines Lebens in der puritanischen Umgebung dieses kleinen Ortes verbracht. Vollkommen zurückgezogen hat Hawthorne hier seine psychologisch tiefgründigen Erzählungen geschrieben. Die Häuser aus der frühen Kolonialzeit werden in Salem mit grosser Sorgfalt erhalten. Im Bereich vom “House of the Seven Gables,” das Hawthorne als Hintergrund für seinen gleichnamigen Roman diente, ist eine Hawthorne Gedenkstätte entstanden. So wurde das einfache Geburtshaus des Autors hierher transferiert und zur Besichtigung geöffnet.

West Newton, 13. Juli 1964

The Plight of the Inner City

Die Innenbezirke der Städte an der Ostküste sind weitgehend verwahrlost, sie ersticken förmlich im eigenen Schmutz. Die Flucht in die “residential areas” am Rand der Städte nimmt immer rascher zu, was wiederum zum weiteren Notstand der Innenstädte beiträgt.

[Plymouth and New Bedford, Massachusetts], 18.-19. Juli 1964

Plymouth

Nach der Landung der Mayflower am 11. November 1620 auf Cape Cod suchten die Pilgrim Fathers einen geeigneten Platz, wo sie eine dauernde Siedlung errichten konnten. Sie fanden diesen Platz am gegenüberliegenden Ufer und nannten die Siedlung Plymouth nach der Hafenstadt in England, von der aus sie in die Ungewissheit ausgezogen waren. Am 16. Dezember ging die Mayflower beim Plymouth Rock vor Anker. Das Pioneer Village von Plymouth vermittelt einen anschaulichen Eindruck davon, wie die Pilgrims in den ersten Jahren nach ihrer Ankunft in der Neuen Welt lebten. Während des strengen ersten Winters ist knapp die Hälfte der 102 Siedler an den Folgen von Krankheiten und Hunger gestorben. Doch schon im Oktober des darauffolgenden Jahres 1621 konnten die Pilgrims gemeinsam mit den Indianern, die ihnen geholfen hatten zu überleben, ihr erstes Thanksgiving feiern. Daraus entstand das ureigene amerikanische Fest der Danksagung und der Familienzusammenkunft.

[George Washington hatte das Thanksgiving vom 26. November 1789 zum nationalen Feiertag erklärt. Aber erst 1941 wurde durch Kongressbeschluss festgelegt, dass der Thanksgiving Day jeweils auf den vierten Donnerstag im November fällt.]

New Bedford

New Bedford, das über eine Flotte von 329 Walfangschiffen verfügte, war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts der wichtigste Hafen für den Walfang in Amerika. Durch die Entdeckung von Erdöl 1857 in Pennsylvanien verlor der Walfang an wirtschaftlicher Bedeutung. Dazu kam noch, dass während des Bürgerkrieges 1861-65 rund die Hälfte der Walfangflotte von New Bedford verloren ging. Das historische New Bedford hat eine besondere Beziehung zur amerikanischen Literatur. Herman Melville (1819-91) war Ende Dezember 1840 nach New Bedford gekommen, um sich auf einem Walfänger anzuheuern. Am 3. Jänner 1841 fuhr er von Fairhaven aus auf dem Walfangsegler Acushnet um das Kap Hoorn in den Südpazifik. Diese vier Jahre dauernde, abenteuerliche Walfangfahrt – das entscheidende Erlebnis in Melvilles Leben – bot ihm zehn Jahre später die Erzählgrundlage für Moby-Dick. Das Whaling Museum in New Bedford enthält eine Reihe von Dokumenten und Objekten, die für as Verständnis von Moby-Dick aufschlussreich sind. Besonders eindrucksvoll war der Besuch der Seamen's Bethel von New Bedford. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat diese Kirche für Matrosen als Vorbild für die Whaleman's Chapel in Moby-Dick (Chap. VII) gedient, von deren Kanzel Father Mapple die Predigt an die Seeleute hält.

West Newton, 20. Juli 1964

Goldwater Nominated

Wie erwartet, wurde Senator Barry Goldwater am vergangenen Mittwoch, den 15. Juli, auf dem Kongress in San Francisco zum Präsidentschaftskandidaten der Republikanischen Partei nominiert. Die Nominierung Goldwaters verdeutlicht, dass sich die politische Haltung innerhalb der Republikaner von der liberalen zur extrem konsevativen Linie verschoben hat. Das Schwergewicht der Partei hat sich vom Osten nach dem Westen, mit Zentren im Südwesten, in Kalifornien und im Nordwesten verlagert. Der neue extrem radikale Ton kam in der “acceptance speech,” der Rede Goldwaters zur Annahme seiner Nominierung zum Ausdruck. Goldwater wörtlich: “Extremism in the defense of liberty is no vice, moderation in the pursuit of justice is no virtue.” (Extremismus bei der Verteidigung der Freiheit ist kein Vergehen, Mässigung im Streben nach Gerechtigkeit keine Tugend.)

West Newton, 25.-27. Juli 1964

Racial Incidents

Vor kurzem ereignete sich in Harlem ein rassischer Zwischenfall, der die New Yorker Polizei veranlasste, das Wohngebiet nördlich der 125th Street abzusperren. Zu einem ähnlichen Zwischenfall kam es dieses Wochenende in Rochester, New York, nachdem ein patrouillierender Hubschrauber der Polizei über dem Farbigenviertel der Stadt abgestürzt war. Der Notstand der Negerbevölkerung in den Ghettos der Städte im Norden macht sich immer mehr durch gewalttätige Ausschreitungen Luft. Das amerikanische Dilemma des Rassenkonflikts ist noch weit von einer Lösung entfernt. Aber dennoch ist Amerika in der Zukunft nur als integrierte Gesellschaft vorstellbar, in der Weisse und Schwarze gleichberechtigt und in Frieden zusammenleben.


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