University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


Cervia, [Anfang August] 1970

Die Amerikaner in Europa

Die weitverbreitete Ansicht, dass die Amerikaner überall in Europa anzutreffen sind und im Sommer den alten Kontinent geradezu überschwemmen, ist ganz und gar unrichtig. Hier an den Stränden der Adria, wo Millionen von Europäern Urlaub machen, sieht man keine Amerikaner. Die Amerikaner kommen im Sommer auf Besichtigungsreise nach Europa, sie sind in alle Richtungen mit Tour-Bussen unterwegs und beleben den Städtetourismus. Während die Europäer sich am Strand oder im Gebirge erholen, schwitzen die Amerikaner in den Innenstädten und plagen sich mit Eifer durch die schlecht ventilierten Schlösser und Museen.

Cervia, [Anfang August] 1970

Italien: Sommer 1970

Obwohl man sich längst an Regierungskrisen in Italien gewöhnt hat und eigentlich zu der Auffassung neigt, dass sich Italien auch ohne Regierung regiert, sieht die Wirklichkeit ganz anders aus. Nach dem Rücktritt des Kabinetts von Mariano Rumor hat die anhaltende Regierungskrise im Lande Beklemmung und Unruhe ausgelöst. In Reggio Calabria kam es zu schweren Unruhen, die schliesslich auch im Norden die Provinz Veneto erfasste, wo Lohnforderungen der Metallarbeiter in Mestre den Generalstreik auslösten.

Italien leidet nach wie vor unter starken sozialen Spannungen. Die Gefahr, dass das Land einem Linksrutsch erliegen könnte, ist angesichts der Tatsache, dass faktisch in ganz Mittelitalien die Kommunisten die Mehrheit haben, nicht von der Hand zu weisen. Wo sind die Gründe zu sehen, dass Italien im Vergleich zum übrigen Europa nachhinkt? Die Industriezone ist in Italien noch dünn und ungleich verteilt. Sie beschränkt sich auf den Norden des Landes, auf das Gebiet der Po-Ebene von Turin über Mailand bis Mestre bei Venedig. Das übrige Land ist sehr rückständig geblieben. Vieles wird in Italien noch manuell betrieben, wo längst die Machine hätte verwendet werden sollen. Das allgemeine europäische Übel eines überwuchernden Klein- und Kleinstgewerbes treibt in Italien besondere Blüten. Die Löhne decken bei steigenden Preisen kaum das Existenzminimum. Über das Land steht immer das Gespenst des “sciopero generale,” des Generalstreiks. Italien beweist eindeutig, dass der Gemeinsame Markt noch kein Allheilmittel für die wirtschaftliche Schwäche eines Landes ist. Die Gesundung muss von innen kommen. Die EWG ist jedenfalls hier noch nicht transparent geworden.

Was Italien weiters bedrängt und Unbehagen schafft, ist die zunehmende russische Präsenz im Mittelmeerraum. Indirekt hängt damit das rücksichtslose Vorgehen der lybischen Revolutionsregierung zusammen, die das Eigentum der dort ansässigen Italiener einfach konfiszierte, sodass diese als mittellose Flüchtlinge in Neapel Unterkunft suchen mussten. Es bleibt fraglich, ob das neue Kabinett von Emilio Colombo diese angehäufte Fülle widersprüchlichster Probleme bewältigen kann.

Innsbruck, 12. August 1970

Deutsch-sowjetischer Vertrag über Gewaltverzicht und Zusammenarbeit

“Mit diesem Vertrag geht nichts verloren, was nicht längst verspielt worden war.”

Willy Brandt

Bundeskanzler Willy Brandt und Ministerpräsident Alexej Kossygin haben heute im Katharinensaal des Kremls den deutsch-sowjetischen Vertrag über Gewaltverzicht und Zusammenarbeit unterzeichnet. Ohne viel Aufhebens wurde nach 25 Jahren Ungewissheit und illusionistischer Hoffnungen der politischen Realität in Europa entsprochen, indem die bestehenden Grenzen anerkannt und für unverletzbar erklärt wurden. Mit einem Satz wurden sowohl die Oder-Neisse-Linie als Polens Westgrenze als auch die Grenze zwischen der BRD und der DDR als zurechtbestehend erklärt. Selten ist in der europäischen Geschichte in einem Vertragswerk mit so wenigen Worten so viel gegeben wie auch vergeben worden.

Die politische Einheit Europas ist nach diesem Vertrag umso dringender geworden, wenn Europa nicht in den Sog des sowjetischen Machtbereichs geraten will. Mit der Entspannung der politischen Lage in Europa wird die Notwendigkeit des amerikanischen Schutzes vermindert, was zu dem schon seit langem angestrebten amerikanischen Disengagement führen könnte. Europa könnte in eine Phase der Neutralisierung zwischen Ost und West eintreten, was sowohl eine Chance als auch eine eminente Gefahr darstellt.

Die neue Ära der Vertragseuphorie

Als ermutigendes Zeichen für die gegenwärtige Weltlage ist zu werten, dass die grossen und gefährlichen Konfliktsituationen zwischen Ost und West am Verhandlungstisch einvernehmlichen Lösungen zugeführt werden. Dazu haben die SALT-Gespräche in Helsinki und Wien, der Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen sowie das soeben zustandegekommene Gewaltverzichtabkommen zwischen der BRD und der Sowjetunion ihren Teil beigetragen. Es besteht daher die Hoffnung, dass im Spannungsfeld der beiden Supermächte durch laufende Verhandlungen Lösungen für den Frieden gefunden werden.


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