University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


Innsbruck, 31. Dezember 1970

Betrachtungen zum Jahresschluss

Das wichtigste Ereignis der europäischen Politik im abgelaufenen Jahr war ohne Zweifel der deutsch-sowjetische Vertrag über Gewaltverzicht und Zusammenarbeit, dem sich folgerichtig der deutsch-polnische Vertrag über die Anerkennung der Oder-Neisse-Linie als Westgrenze Polens anschloss. Nach dieser Flurbereinigung grossen Stils wurden die Voraussetzungen für die von kommunistischer Seite schon seit langem angestrebte europäische Sicherheitskonferenz geschaffen. Sie würde den Status quo in Europa durch ein international anerkanntes Vertragswerk besiegeln. Damit wäre wohl die Chance für eine langfristige Friedenssicherung gegeben, andererseits aber auch die Gefahr für eine mögliche Spaltung und Aushöhlung des westlichen Bündnisses. Das kommunistische Übergewicht könnte das ohnedies linksanfällige Rumpfeuropa überschatten.

Die europäische wirtschaftliche und im Gefolge notwendigerweise auch politische Integration ist ein langsamer Prozess, der sich wohl noch über Jahrzehnte erstrecken wird. Doch die Integration ist nicht mehr aufzuhalten. Das neue Europa, das einmal daraus hervorgeht, wird sich trotz ähnlicher äusserlicher Konturen jedoch grundsätzlich von den Vereinigten Staaten unterscheiden. Es wird ein eigenes politisches Gebilde mit starkem konföderativen Charakter entstehen, das wohl eine gemeinsame Wirtschaft und Währung, aber lange kein effektives Parlament haben wird. Europa kann nicht über seinen eigenen Schatten springen und die vielfältige nationale Eigenstaatlichkeit plötzlich aufgeben. Der Übergang zur europäischen Konföderation braucht Zeit und kann nur schrittweise erfolgen.


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