University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


South Bend, 2. Mai 1974

Fehleinschätzungen

Gegenseitige Fehleinschätzungen zwischen Amerika und Europa haben mehrmals zu historischen Katastrophen grossen Ausmasses geführt. Nichts könnte daher für die Aufrechterhaltung des Nordatlantischen Bündnisses wichtiger sein, als dass sich die Vereinigten Staaten und die europäischen Länder näher kennen und verstehen lernen.

South Bend, 7. Mai 1974

Brandts Rücktritt

Die Nachricht vom plötzlichen Rücktritt des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt traf die amerikanische Öffentlichkeit, die sonst an europäischen politischen Ereignissen wenig Anteil nimmt, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die Ursache für Brandts Rücktritt ist schwer zu begreifen. Ist der Spionagefall nur Vorwand oder liegen die Gründe tiefer? Willy Brandt hat der europäischen Politik Form gegeben. Die Lücke nach seinem Abgang wird schwer zu schliessen sein.

South Bend, 8. Mai 1974

Frei ins Haus geliefert

Als Sonderbeilage der verschiedenen Tageszeitungen wird nun jedem amerikanischen Haushalt die ganze schmutzige Wäsche des Weissen Hauses frei ins Haus geliefert. Die von Präsident Nixon freigegebenen transcripts der Tonbandaufnahmen in der Watergate Affäre zeigen in einem erschreckenden Ausmass die Niveaulosigkeit des Arbeitsstils, der sich in der engsten Umgebung des Präsidenten breitgemacht hat. Die Sprache ist so zynisch und voller Schimpfwörter, dass jeder zweite Satz ein “expletive,” einen Lückenbüsser enthält. Welche Auswirkung diese Tonbandaufnahmen in einem Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Nixon haben werden, bleibt dahingestellt. Sie haben jedenfalls einen amerikanischen Mythos zerstört. Das Oval Office ist bisher für sakrosankt gehalten worden. Niemand konnte sich vorstellen, dass im geheiligsten Amtsraum des Landes eine so profane Sprache gebraucht wird. Das Office des Präsidenten wurde in den Schmutz gezogen und ist einer beschämenden Ernüchterung gewichen.

Sonntag, 19. Mai 1974

Noch einmal vorbeigerutscht

Valery Giscard d'Estaing gewann heute in der Stichwahl die französische Präsidentschaft mit einem knappen Vorsprung (371.814 von insgesamt 26 Millionen Stimmen) vor Francois Mitterand. Damit ist Frankreich wiederum haarscharf an einer sozialistisch-kommunistischen Regierung vorbeigerutscht. Aber die tiefe soziale Spaltung, welche durch die französische Bevölkerung geht, wurde durch diese Wahl ebenso offenkundig. Von Giscard d'Estaing wird eine engere Kooperation mit der EWG sowie eine aufgeschlossenere Haltung gegenüber den USA erwartet.

[Von Ende Mai bis Mitte August verbrachten meine Familie und ich die Sommerferien in Innsbruck. Wir hatten einen Charterflug mit der Modern Language Association of America von New York nach Paris gebucht.]

South Bend, 25. Mai 1974

Abreise aus dem Watergate geplagten Amerika

Vor der Abreise von Amerika bleibt heuer die Frage offen, ob der Rechtsausschuss des Repräsentantenhauses, das Rodino Committee das “impeachment” empfehlen wird, und ob es zum Amtsenthebungsprozess gegen Präsident Nixon im Senat kommen wird.

[Peter W. Rodino, geb. 1909 in Newark, New Jersey, von Beruf Rechtsanwalt und Politiker, Demokrat, US Representative von New Jersey, 1948-80; ab Jänner 1973 Chairman of the Judiciary Comittee of the US House of Representatives (Vorsitzender des Rechtsausschusses des Abgeordnetenhauses). Im Februar 1974 wurde Rodino vom Haus beauftragt, die Rechtsverletzungen in der Watergate Affäre zu untersuchen und, wenn notwendig, das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Nixon einzuleiten.]


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