University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


Innsbruck, [Anfang März] 1977

Wien als Durchgangsstation

Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein Dissident aus den Ostblockländern in Wien in der Hoffnung eintrifft, in die USA weiterreisen zu können. Die Klausel über die Menschenrechte in den Schlussakten von Helsinki hat sich als Zeitzünder erwiesen. Die Stimmen nach mehr Freiheit in den Oststaaten wollen nicht mehr zur Ruhe kommen – zuerst die Charta 77 in der Tschechoslowakei,* dann die Gruppe um den Physiker Sakharov in Moskau.** Genährt wird die Hoffnung auf mehr Freiheit durch das energische Eintreten Präsident Carters für die Menschenrechte. Die für Ende Sommer dieses Jahres anberaumte KSZE-Folgekonferenz in Belgrad verspricht eine brisante Auseinandersetzung zu werden.

*[Am 5. Jänner 1977 hatten 257 Bürger in der Tschechoslowakei die Charta 77 unterzeichnet, womit sie die Verwirklichung der in Helsinki zugesagten Menschenrechte forderten.]

**[Der 1921 in Moskau geborene, bekannte russische Atomphysiker Andrei Sakharov hatte sich unermüdlich für die Menschenrechte eingesetzt. Er gründete 1970 das Komitee für die Menschenrechte und erhielt 1975 den Nobel Friedenspreis. Sakharov wurde von 1980-86 in die innere Verbannung nach Gorky geschickt. Nach kurzer Freiheit unter der Gorbatschow Ära starb er 1989 in Moskau.]

Links überholt

In den letzten Jahrzehnten hat sich das Demokratieverständnis zwischen Amerika und Europa geradezu ins Gegenteil gewendet. Während die amerikanische Demokratie für Europa immer zu liberal gewesen ist, sieht sich heute ein konservatives Amerika einem radikal progressiven Europa gegenübergestellt. Von den Volksdemokratien in Osteuropa, die den demokratischen Gedanken zur kommunistischen Diktatur pervertieren, ganz abgesehen, beschwört die zunehmende Radikalisierung in Westeuropa eine Vertändigungskrise mit den Vereinigten Staaten herauf. Wie sollen sich die USA auf den wachsenden Eurokommunismus einstellen und die linksradikalen Reformer sich mit Washington verstehen? Europa hat Amerika im Demokratieverständnis links überholt.

Wie weit links ist links

An der Universität Rom kam es zu einer regelrechten Strassenschlacht, als ein kommunistischer Gewerkschaftsfunktionär zu den streikenden Studenten sprach und dabei von radikalen linken Gruppen gestürmt wurde. Wie weit links, der Anarchie verschworen, müssen diese Studenten stehen? Aber was sich in Rom abspielte, ist nur ein sichtbar gewordenes Zeichen der inneren sozialen Unruhe, die weite Teile von Europa bedrohen. Auf die meisten europäischen Staaten kommt eine Lawine akademischer Arbeitslosigkeit zu. Die Massen an fertigen und halbfertigen Akademikern, die jährlich von den Hochschulen entlassen werden, hängen ohne Ziel für die Zukunft in der Luft. Dahinter verbirgt sich viel Elend, Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung. In dieser Aussichts- und Richtungslosigkeit für die Zukunft liegt eine explosive Gefahr, die zu gewalttätigen Ausschreitungen führen kann.

Europäischer Pessimismus

Wenn man von Amerika nach Europa kommt, schlägt einem eine kaum fassbare pessimistische Haltung entgegen. Es macht sich eine weitverbreitete Griesgrämigkeit bemerkbar, von der Einstellung genährt, dass ohnedies alles zusammen nichts hilft. Es ist ein Verweilen in der Vergangenheit, wobei die Augen bewusst vor der Zukunft verschlossen bleiben. Es braucht einige Zeit, bis man sich mit diesem Defätismus wieder abfindet. Diese pessimistische Haltung ist destruktiv, sie lähmt jede Initiative und lastet zentnerschwer auf der Jugend, die nach Entfaltung strebt.

Marbach, Baden-Württemberg, [Mitte März] 1977

Neapel am Neckar

Wer zu den Gedenkstätten Friedrich Schillers nach Marbach am Neckar pilgert, wird überrascht sein, wie sehr dieses alte Städtchen süditalienischen Charakter angenommen hat. In die alten Fachwerkhäuser, in denen einst wohlbestellte Meister wohnten, sind italienische Gastarbeiter eingezogen. Die Gaststätten haben sich in Pizzerias verwandelt, in den engen Gassen hängt die Wäsche zum Trocknen, und vor dem Stadtbrunnen wurden Gemüsestände aufgestellt. Das gibt dem Städtchen einen gewissen südländischen Reiz. Marbach beleuchtet nur schlagartig, was sich derzeit in vielen Kleinstädten nördlich der Alpen vollzieht. Es ist die soziologische Unterwanderung aus dem ärmeren Süden Europas. Während das mittelständige Bürgertum in die Vororte zieht, übernehmen die Gastarbeiter die leerstehenden und zum Teil verfallenen Altbauwohnungen. Das erinnerte mich an einen ähnlichen Vorgang, wie ich ihn in Cincinnati in Ohio beobachten konnte. Im Grunde genommen ist diese soziologische Umschichtung nichts Aussergewöhnliches. Sie wird in dem Masse zunehmen, in dem sich die europäische Gemeinschaft zusammenschliesst und die Freizügigkeit breiter Bevölkerungsschichten zulässt.

Innsbruck, 16. März 1977

Österreichstudien in Amerika

Heute wurde von Bundeskanzler Bruno Kreisky der University of Minnesota 1 Million Dollar zur Errichtung eines Lehrstuhls für Österreichstudien (Chair for Austrian Studies) zur Verfügung gestellt. Zugleich wird auch ein Institut für Österreichstudien eingerichtet. Die finanziellen Mitteln wurden für diesen Zweck aus dem Verhauf von Amerikasternen während des Bicentennial-Jahres aufgebracht. Alle Schichten der österreichischen Bevölkerung haben sich aus Dankbarkeit für die Marshall-Plan Hilfe an dieser Aktion beteiligt.

18. März 1977

Sorge um die Menschenrechte

In seiner Ansprache vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen richtete Präsident Carter einen leidenschaftlichen Appell an die Weltöffentlichkeit, sich für die Menschenrechte einzusetzen. Kein Staat, betonte Carter, könne sich das Recht anmassen, die Misshandlung seiner Bürger als rein innere Angelegenheit zu bezeichnen.

Wien, [Ende März] 1977

Flüchtlingstragödien

Österreich liegt geographisch an einem Aussenposten der freien Welt. Es vergeht kein Tag, an dem nicht eine oder mehrere Personen unter Einsatz ihres Lebens über die Grenze nach Österreich flüchten. Hier treffen die Flüchtlinge aus dem Osten zuerst ein, hier werden sie aufgenommen, betreut und an die westlichen Missionen weitergeleitet. Auf dem amerikanischen Konsulat in Wien spielen sich derzeit mehr denn je Flüchtlingstragödien ab. Menschen, die aus dem Osten geflüchtet sind, stehen hier unter schwerer Bewachung Schlange. Sie alle hoffen, dass sie in die USA zugelassen werden, um dort ein neues Leben beginnen zu können. Diese Möglichkeit wird nur wenigen geboten, während viele andere sich auf ein jahrelanges Warten und endlose Petitionen eingerichtet haben. Trotz der günstigen Anzeichen der Entspannung hat hier die Grenze zum Osten nichts von ihrer harten Realität verloren.

Wien, 31. März 1977

Erleichterungen im Reiseverkehr

Die Entspannungspolitik zwischen Ost und West zeigt hier in Wien, dass Erleichterungen im Reiseverkehr mit Ungarn und der Tschechoslowakei eingetreten sind. Am Sonntagmorgen treffen Busse mit Touristen aus Budapest und Prag ein, die den Tag in Wien verbringen. Diese Gäste aus dem Osten sind nun im Prater, vor Schloss Schönbrunn und in den Museen anzutreffen. Auffallend ist dabei, mit welcher Hingabe sie vor den Reminiszenzen aus der Habsburger Monarchie stehen. Als Fortschritt der Détente ist es auch anzusehen, dass eine ungarische Restaurantkette ihre Etablissements nun zugleich in Budapest, Ost-Berlin und Wien betreiben kann. Der Trend zur Entspannung ist besonders hier im Donauraum irreversibel geworden.


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