University of Notre Dame
Archives   


The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


7. Mai 1980

Viel hängt nun von Jugoslawien ab

Nach dem Ableben von Staatspräsident Marschall Tito sind die Befürchtungen wieder wach geworden, dass die Sowjetunion Jugoslawien enger an die Kandare nehmen, wenn nicht militärisch besetzen wird. Ein Einmarsch sowjetischer Truppen steht zwar nicht bevor, aber den Versuch, die jugoslawischen Verhältnisse zu ihren Gunsten zu beeinflussen, wird sich die Sowjetunion nicht entgehen lassen. Viel hängt jetzt von Jugoslawien selbst ab, ob es die Disziplin zur nationalen Einheit aufbringen wird. Sollten die alten Rivalitäten zwischen Serben, Kroaten, Mazedoniern und den anderen ethnischen Gruppen wieder aufflackern, dann wäre nicht nur Jugoslawien, sondern die ganze Region davon betroffen.

[Marschall Tito hatte das Amt des Staatspräsidenten der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien auf Lebenszeit inne. Nach seinem Tod wurde die Führung des Staates einem kollektiven Präsidium von 8 Mitgliedern übertragen, dessen Vorsitz unter den einzelnen Republiken der Föderation abwechselte. Die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien zerbrach schliesslich am ethnischen Konflikt.]

South Bend, 8. Mai 1980

Der Exodus aus Kuba

Nachdem Tausende Kubaner die peruanische Botschaft in Havanna gestürmt hatten, um das Asylrecht zu erlangen, gab Fidel Castro die Ausreise für alle diejenigen frei, welche die Insel verlassen wollten. Das hat einen massiven Exodus aus Kuba ausgelöst. Mit jedem nur fahrbaren Schiff oder Boot wird nun schon seit Wochen die Strasse von Florida nach Key West und Miami überquert. Der Menschenstrom ist so gross, dass die Einwanderungsbehörde und Hilfsorganisationen zur Aufnahme der Flüchtlinge überfordert sind. Zu den 600.000 Exil-Kubanern, die in Miami leben, kommen nun Zehntausende neue Exilanten dazu. Die Szenen, die sich täglich an der Küste abspielen, sind erschütternd. Man sieht es den Gesichtern dieser Menschen an, wie erleichtert sie aufatmen, wenn sie Florida erreichen. Doch nicht alle kommen aus reinem Freiheitsdrang. Fidel Castro hat auf zynische Weise die Gelegenheit ausgenützt, seine Gefängnisse zu entleeren, sodass sich unter die Flüchtlinge auch kriminelle Elemente mischen. Die Regierung Carter hat sich bisher nachsichtig und human gezeigt, indem zunächst einmal alle Flüchtlinge, die an der Küste von Florida ankamen, aufgenommen wurden.

[Mitte Mai] 1980

Aus dem Chaos, welches der Auszug aus Kuba zunächst hervorgerufen hat, zeichnen sich einige fassbare Umrisse ab. Der Strom an Flüchtlingen dürfte schätzungsweise bis auf 60.000 Menschen anschwellen. Die Gründe für diese grosse Auswanderung sind verschieden. Viele sind nach Florida gekommen, um Familienangehörige zu treffen, die sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen haben. Die meisten aber flüchteten, um den widerwärtigen wirtschaftlichen Verhältnissen und politischen Repressionen auszukommen. Das kriminelle Element unter den Flüchtlingen dürfte nur 1% ausmachen. Als Folge des kubanischen Auszuges ist die gesamte Karibik in Aufruhr geraten. Auch von Haiti setzen sich Tausende von Menschen ab, die nach Amerika kommen wollen. Der Prozess der Aussondierung, wer von den Flüchtlingen in den USA bleiben kann oder nicht, hat erst begonnen.

Nachtrag

[Die Chicago Tribune hat zur zwanzigjährigen Erinnerung an den Auszug aus Kuba im Mai 1980 auf der Titelseite einen Aufsatz gebracht, in dem das ganze Geschehen überschaubar dargestellt wird. Daraus sind folgende Einzelheiten zu entnehmen. Der Auszug aus Kuba im Frühjahr 1980 ist als “Mariel” bekannt geworden, da er von dem Hafen Mariel bei Havanna erfolgte. Die Auswanderung hatte am 20. April begonnen, erreichte im Mai ihren Höhepunkt, setzte sich aber über den Sommer bis zum Herbstbeginn fort. Der Hafen Mariel wurde am 26. September 1980 wieder geschlossen. Insgesamt sind an die 125.000 “Marielitos” nach Südflorida gekommen. Das kriminelle Element duerfte an die 5.000, also 4% ausgemacht haben. Diese neue Welle von Exil-Kubanern hat das Bild von “Little Havana,” dem südlichen Stadtteil von Miami völlig verändert. Das ursprüngliche Stigma, welches diese Menschen auf sich nehmen mussten, wurde überwunden. Sie haben sich im Verlaufe von zwei Jahrzehnten erfolgreich bewährt, haben Unternehmen aufbauen und politischen Einfluss gewinnen können. Siehe dazu den Artikel “Pride has replaced stigma for 1980 Mariel arrivals,” Chicago Tribune, 15. Mai 2000, sec. 1/ pp.1, 14.]

South Bend, 15. Mai 1980

25 Jahre österreichischer Staatsvertrag

Ich erinnere mich noch genau an jenen Sonntagmittag, den 15. Mai 1955, wie die Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages im Oberen Belvedere in Wien über den Rundfunk übertragen wurde. Ich war damals mit meiner Familie in Innsbruck. Da war zunächst ein Augenblick der Unglaubwürdigkeit, bis die Tatsache des Staatsvertrages fassbar wurde. Als Aussenminister Leopold Figl an der Seite von Bundeskanzler Julius Raab und flankiert von den Vertretern der vier Signatarmächte auf dem Balkon des Oberen Belvederes die Urkunde des Staatsvertrages hochhob und ausrief: “Österreich ist frei!” - brach unter der Bevölkerung der Jubel los. Das war die Schicksalsstunde des modernen Österreichs.

Nach 25 Jahren kann man sagen, dass der Staatsvertrag und die österreichische Neutralität sich ausserordentlich bewährt haben. Österreich wurde noch im selben Jahr in die Vereinten Nationen aufgenommen und konnte eine Vermittlerrolle zwischen Ost und West übernehmen.


<< Lanzinger >>