University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


Abschnitt 9: 1. Jänner 1983 - 31. Juli 1985

Innsbruck, 1. Jänner 1983

Ein Schauspiel ohnegleichen

Dem amerikanischen Betrachter der europäischen Szene bietet sich derzeit ein Schauspiel ohnegleichen. Wird es Westeuropa in den kommenden Jahren gelingen, sich selbst zu behaupten, oder wird es wie eine reife Frucht dem osteuropäischen Kommunismus in den Schoss fallen? Dabei sind die Gefahren von innen genauso gross wie von aussen. Durch die Wirtschaftsregression, die im neuen Jahr ansteigende Arbeitslosenzahlen in fast allen westeuropäischen Ländern mit sich bringt, wird die Demokratie auf eine harte Probe gestellt. Dazu kommen die Ungewissheit der politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik, die permanent schwebende Regierungskrise in Italien, die zunehmende Radikalisierung in den Randgebieten, in der Türkei, in Griechenland und Portugal, der Rückgang des Wohlstandes in Frankreich und Grossbritannien, sowie die immer lauter werdende Friedensbewegung und der weitverbreitete politische Defätismus. Wird es zur Durchführung des NATO-Doppelbeschlusses, d.h. zur Installierung der 572 Pershing-II und der “cruise missiles” kommen, oder wird Westeuropa zur atomfreien Zone erklärt? Im letzteren Falle bliebe Westeuropa der Bedrohung durch die sowjetischen SS-20 Mittelstreckenraketen ausgesetzt, die unverblümt auf Ziele in Westeuropa eingestellt bleiben. In dieser Bedrängnis verlangt Moskau von den Westeuropäern geradezu ultimativ, dass sie sich von den USA abkoppeln und die NATO auflösen. Es ist ein beispielloses Ringen um Westeuropa entbrannt. Wem werden die Westeuropäer sich zuwenden? Das scheint die entscheidende Frage für die 80er-Jahre zu werden.

Die Amerikasehnsucht

Bei gewissen Bevölkerungsschichten ist derzeit eine Amerikasehnsucht feszustellen, wie sie in diesem Ausmass noch nie da gewesen ist. Ob man mit der studierenden Jugend spricht, mit Akademikern, die bereits im Beruf stehen, mit Gewerbetreibenden mittleren Alters, oder mit Politikern der ÖVP wie der SPÖ, hört man immer wieder die gleiche Äusserung: “Ich möchte einmal nach Amerika kommen!” Berufliches Interesse spielt dabei eine ebenso starke Rolle wie die persönliche Wissensbegierde, die Vereinigten Staaten kennenzulernen.

Der Antiamerikanismus mag sich nach aussen hin vielfach manifestieren, im Innern, in der persönlichen Anschauung vieler Menschen herrscht jedoch eine geheime Zuneigung zu Amerika vor, die man nicht übersehen kann. Welch ein Jubel brauste doch gestern Abend bei der Silvester-Show in Bad Gastein Liza Minelli entgegen, als sie “New York, New York” sang.

Wie reagieren

Verwirrt durch die Hassausbrüche, die sich bei Protestkundgebungen gegen Amerika entladen, wissen die Amerikaner oft selbst nicht, wie sie darauf reagieren sollen. Sich aus Europa zurückzuziehen, würde nicht nur Millionen von Menschen vor den Kopf stossen, es wäre auch eine historische Fehlentscheidung von grosser Tragweite.

[Anfang Jänner] 1983

Historische Erinnerungstage

Österreich, wie überhaupt der gesamte deutsche Kulturkreis, schwelgt geradezu in historischen Erinnerungstagen. 1982 wurden das Haydn-Jahr [250. Geburtstag] und der 150. Todestag von Goethe feierlich begangen. Aber schon künden sich die Vorbereitungen für die 1983 anfallenden kommemorativen Anlässe an. Dazu gehören: Der 500. Geburtstag von Martin Luther, der 100. Todestag von Karl Marx, die 300. Wiederkehr der Türkenbelagerung von Wien, 100 Jahre PSK [Österreichische Postsparkasse], das Brahms-Jahr [150. Geburtstag], der 100. Todestag von Richard Wagner, Symposien zum 100. Geburtstag von Franz Kafka sowie 500. Geburtstag von Raffaello Santi. Die Liste der geplanten Feierlichkeiten, Symposien und Konferenzen liesse sich noch fortführen.

7. Jänner 1983

Die Friedensinitiative aus Prag

Die sieben Ostblockstaaten - die Sowjetunion, Polen, die DDR, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumaenien und Bulgarien - haben auf ihrem Gipfeltreffen in Prag eine umfassende Friedensinitiative ausgearbeitet und dem Westen vorgelegt. Neben den schon oft gehörten propagandistischen Aufrufen zum Verzicht auf den Ersteinsatz von Kernwaffen, die Einstellung des Wettrüstens und Auflösung der NATO wie des Warschauer Paktes wurde auch ein Nichtangriffspakt mit dem Westen vorgeschlagen. Die Vorschläge aus Prag haben im Westen aufhorchen lassen und zumindest Gesprächsbereitschaft ausgelöst. Entscheidend werden in den nächsten Monaten die Fortschritte bei den Genfer Abrüstungsgesprächen sein.

19. Jänner 1983

Werben um Deutschland

Der gegenwärtige Besuch des sowjetischen Aussenministers Andrej Gromyko in Bonn ist ein deutliches Werben um die Bundesrepublik, auf einen neutralistischen Kurs einzuschwenken und in der Abrüstungsfrage den Standpunkt Moskaus zu fördern. Nicht ohne Absicht ist dieser Besuch auf die deutschen Wähler ausgerichtet, die am 6. März eine wichtige Entscheidung zu treffen haben.

Innsbruck, 19. Jänner 1983

Moralische Unterstützung für die atomare Abrüstung

Der Hirtenbrief der amerikanischen katholischen Bischöfe hat ein ungeahntes weltweites Echo hervorgerufen. Die mutige Stellungnahme der amerikanischen Bischöfe zum gegenwärtigen Abrüstungsdialog kann ihre Wirkung nicht verfehlen.

Anmerkung

[Die amerikanischen katholischen Bischöfe haben von 1981-83 einen Hirtenbrief ausgearbeitet, der sich im allgemeinen mit der Frage von Krieg und Frieden im Atomzeitalter befasst. Der Brief ging durch drei Vorlagen. Die zweite Vorlage ist weltweit bekannt geworden. Papst Johannes Paul II. hatte zu deren Beurteilung für den 18. und 19. Jänner 1983 eine Konferenz im Vatikan einberufen, auf der die Vertreter der amerikanischen Bischofskonferenz ihre Ansichten zur atomaren Abrüstung mit Bischöfen und Experten aus Europa besprechen konnten. Die revidierte dritte Vorlage wurde dann im Mai 1983 von der amerikanischen Bischofskonferenz als endgültige Fassung angenommen. Das sachlich gut fundierte, 103 Seiten umfassende Dokument wurde mit dem Titel The Challenge of Peace: God's Promise and Our Response. A Pastoral Letter on War and Peace (Washington, DC: United States Catholic Conference, 1983) veröffentlicht. Die amerikanischen Bischöfe sprechen sich darin eindeutig gegen den Ersteinsatz von Atomwaffen aus, da selbst bei einer begrenzten Anwendung die katastrophalen Auswirkungen nicht abzuschätzen sind. So heisst es im Text: “We do not perceive any situation in which the deliberate initiation of nuclear warfare, on however restricted a scale, can be morally justified” (p. 47). Der Brief unterstützt auf das dringlichste die Bemühungen zur Abrüstung, bzw. Eliminierung von nuklearen Waffen.]

20. Jänner 1983

Eine warnende Stimme

Niemand geringerer als der französische Staatspräsident Francois Mitterand hat in einer Ansprache vor dem Bundestag in Bonn davor gewarnt, dass sich Europa von den USA loslöse und sich in der eigenen Sicherheitsfrage blossstelle. Wer würde erleben wollen, gab Mitterand zu bedenken, dass der europäische Kontinent von Amerika abgekoppelt wird.

30. Jänner 1983

Ein unerträglicher Gedanke

Der Gedanke, dass russische SS-20 Mittelstreckenraketen mit atomaren Sprengköpfen auf Ziele in Westeuropa mit der grössten Bevölkerungsdichte eingestellt bleiben, ist einfach unerträglich. Es gibt im Augenblick kein dringenderes Problem als den Abbau des nuklearen Waffenarsenals auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs.


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