University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


Notre Dame, 1. März 1964

Zum erstenmal mit dem Wagen nach Chicago

Das moderne industrialisierte Amerika kann man am besten zwischen Gary, Hammond, East Chicago und der Stadtmitte von Chicago erleben. Die Indiana Tollroad zieht ihre Bahn durch die Stahlwerke von Gary und die Raffinerien bei Hammond zur Chicago Skyway hin, welche den Hafen von Chicago überbrückt. Die Skyway mündet in die 14-bahnige Dan Ryan Expressway, die direkt zum Loop (Strassenkreuz) im Zentrum der Stadt führt. Zum erstenmal über diese Strassen zu chauffieren ist ein eindrucksvolles, wenn auch nervenanspannendes Erlebnis. Man gewinnt dabei den Eindruck, dass Amerika die mit der Technisierung verbundenen Probleme der Bevölkerungsansammlung in den Industriegebieten, der ausgedehnten Areale von Industrieanlagen sowie der Verkehrsstauungen in den Grossstädten auf die rationellste Weise löst. Die Tendenz der Bevölkerungsbewegung geht allgemein in die Vorstädte. Die “suburbs” oder “residential areas” umschliessen die Stadt in einem Umkreis von rund 60 Meilen, wobei sie sich immer mehr ausdehnen.

Kommentar

[In einem Umkreis von rund 100 Meilen zählt das Gebiet von Chicago nach New York und Los Angeles zu den grossen Ballungszentren von Amerika. Trotz ständiger Erneuerung und Verbreitung des Strassennetzes gelingt es nur schwer, dem zunehmenden Verkehrsvolumen nachzukommen. Zu Stosszeiten sind stundenlange Staus auf der Dan Ryan Expressway keine Seltenheit mehr.]

Notre Dame, 2. März 1964

Ein Asylland für die Aristokratie

Es überrascht festzustellen, dass die Vereinigten Staaten seit ihren Bestehen immer auch ein Asylland für die europäische Aristokratie gewesen sind. Während der Französischen Revolution haben Mitglieder des französischen Hochadels Zuflucht in den États-Unis gesucht. Auch während der revolutionären Umstürze im 19. und 20. Jahrhundert sind politisch verfolgte Adelige aus Europa nach Amerika geflüchtet, wo sie offenherzig aufgenommen wurden.

Notre Dame, 5. März 1964

Die Campus Architektur

Auf einem Rundgang durch eine amerikanische Universität kann man am besten die verschiedenen Bauphasen studieren, welche die Vereinigten Staaten im Verlaufe ihrer Geschichte durchlaufen sind. Man wird zunächst unweigerlich auf einige alte Rohziegelbauten aus der Kolonial- oder Pionierzeit stossen, dann die tempelartigen “Greek Revival” Bauten mit ihren vielen Säulen sehen. Vorwiegend bleiben aber die efeubedeckten neugotischen Gebäude. Diese im “College Gothic” errichteten Bauten mit ihren Spitzbogenfenstern, engen Eingängen, Türmchen, Verschnörkelungen und lateinischen Aufschriften geben dem Campus ein geradezu scholastisch mittelalterliches Ambiente. Zur Zeit setzt sich aber, wie der Neubau der grossen Bibliothek auf dem Notre Dame Campus beweist, eine neue, von europäischen Vorbildern gelöste, mehr funktionsgerechte moderne Architektur durch, die den amerikanischen Colleges und Universitäten ein neues Gepräge geben.

Notre Dame, 10. März 1964

Von der Aussenwelt abgeschnitten

Der amerikanische Mittelwesten bleibt von der Aussenwelt weitgehend abgeschnitten. So ist es zum Beispiel nicht möglich, an einer hiesigen Bank in South Bend eine ausländische Note in Dollar umzuwechseln.

Notre Dame, 18. März 1964

The Civil Rights Bill – Die Vorlage zum Bürgerrechtsgesetz

Die im Kongress zur Abstimmung vorliegende Civil Rights Bill gilt als die wichtigste Gesetzesnovelle zur Überwindung der Rassendiskriminierung in den Vereinigten Staaten seit dem “Fourteenth Amendment,” dem 14. Zasatzartikel zur amerikanischen Verfassung von 1866, welcher der farbigen Bevölkerung nach der Emanzipation die Staatsbürgerschaft gab.

Die Civil Rights Bill wurde bereits am 10. Februar vom House of Representatives mit 290:130 Stimmen angenommen und an den Senat weitergeleitet. Die Debatte, die sich nun im Senat entwickelt hat, stellt dieses wichtige Gesetzeswerk wiederum in Frage. Die Unterschiede in der Auffassung von Rassendiskriminierung zwischen Norden und Süden prallen hart aufeinander. Die Vertreter des Südens wenden unter anderem ein, dass dieses Gesetz das Privatrecht des Bürgers einschränke. So würde einem Restaurantbesitzer das Entscheidungsrecht darüber genommen, wen er in sein Lokal einlässt oder nicht. Die Senatoren aus dem Süden geben wieterhin zu bedenken, dass mit der Durchführung dieses Gesetzes zu viel Macht an das “federal government,” die Bundesregierung in Washington gegeben werde. Sie bringen weiterhin auch ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass es zu “mob violence,” zu gewalttätigen Ausschreitungen kommen könnte.

[Die Debatte im Senat hat sich noch bis Juni hingezogen. Die Abstimmung wurde vielfach durch “filibuster” (Obstruktionspolitik durch Dauerreden) verzögert. Siehe dazu unten die Eintragung vom 10. Juni 1964.]

Nachtrag

[Der 14. Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung wurde durch eine Resolution des Kongresses 1866 vorgeschlagen. Nachdem Dreiviertel der Staaten in der Union diesen ratifiziert hatten, trat er 1868 in Kraft. Section 1 des “Fourteenth Amendment” lautet: “All persons born or naturalized in the United States, and the subject to the jurisdiction thereof, are citizens of the United States and of the State wherein they reside.” Damit wurde die Grundlage für die amerikanische Staatsbürgerschaft geschaffen. Im gleichen Zuge wurde den rund vier Millionen von der Sklaverei emanzipierten Farbigen die Staatsbürgerschaft erteilt.]

Rundfahrt während der Osterferien [23. März – 1. April 1964]

Drei Staaten Tour: Indiana, Illinois, Kentucky – acht Tage mit dem Auto unterwegs – 2.000 Meilen (3.200 km) bewältigt.

Die Fahrtroute

Indiana: Von South Bend in südwestlicher Richtung über Rochester nach Lafayette/West Lafayette (Sitz der Purdue University); weiter nach Westen nach Illinois: Über Danville nach Urbana/Champaign (Sitz der University of Illinois); weiter nach Springfield, der Hauptstadt von Illinois. In Springfield Besichtigung der Lincoln Gedenkstätten, einschliesslich des zehn Meilen nordwestlich gelegenen Pioneer Village von New Salem, wo Abraham Lincoln angefangen hatte als Anwalt zu praktizieren und sich mit der Politik zu beschäftigen. Von Springfield geht die Fahrt weiter nach Süden an den Mississippi River und nach St. Louis, Missouri. Am rechten Ufer des Mississippi breitet sich die riesige Baustelle des “Gateway Arch” (Torbogen) Projektes aus.


Gateway Arch, St. Louis

Das Gateway Arch wurde nach einer achtjähriger Bauzeit im Mai 1968 eröffnet. Dieses Meisterwerk der modernen Architektur steht am Mississippi-Ufer von St. Louis inmitten der grossen Parkanlage des Jefferson National Expansion Memorial. Der hochaufragende Bogen aus rostfreiem Stahl mit einer Höhe von 630 feet (192 m) symbolisiert das Tor zu Erschliessung des amerikanischen Westens im 19. Jahrhundert. Innerhalb der beiden Arme des Bogens fährt eine schmalspurige Zahnradbahn zur Spitze, wo eine Plattform auf der Ostseite eine Aussicht über den Mississippi bis weit nach Illinois hinein und auf der Westseite über St. Louis bis in die Vororte hinaus bietet. Das oblige Bild wurd Mitte Oktober 2000 aufgenommen.


[Das Gateway Arch oder der Torbogen zum Westen, der mit einer Höhe von 630 feet (192 m) die “skyline” umrahmt, ist zum neuen Wahrzeichen von St. Louis geworden.] Nach kurzem Aufenthalt in St. Louis geht die Reise auf der Illinois Seite des Mississippi weiter nach Süden; zuerst nach Fort Kaskaskia und dann weiter in das Gebiet von “Little Egypt” über Thebes an die Landspitze von Cairo, wo der Ohio River in den Mississippi mündet. [Cairo, Illinois, war deshalb ein Ziel dieser Reise, weil François Chateaubriand in der Atala (1801) für die berühmte Szene in der französischen Literatur, “Les Funérailles d'Atala” das Mündungsgebiet des Ohio als fiktiven Hintergrund gewählt hatte.]

Kentucky: Nach der Fahrt über die Ohio Brücke Besichtigung der “Mounds,” der alten Hügelgräber verschiedener Indianerstämme bei Wickliffe in Kentucky; von da geht die Reise weiter über Paducah zum Kentucky Dam Village Resort Park. Hier entstand am Staudamm der TVA (Tennessee Valley Authority) ein Erholungsgebiet. Mit einer Länge von 183 Meilen (293 km) gilt der Kentucky Lake als einer der längsten künstlich angelegten Seen der Welt. Vom Kentucky Dam Village geht die Fahrt auf der neugebauten Western Kentucky Parkway durch eine herrliche Narturlandschaft in östlicher Richtung nach Elizabethtown und Bardstown in Central Kentucky. In Hodgenville bei Elizabethtown Besuch von Lincolns Geburtsort. Die “Log Cabin” (Blockhütte), in der Abraham Lincoln 1809 geboren wurde, wird von einem Überbau geschützt und kann als Museumsobjekt besichtigt werden. Wie vorausgeplant, verbringt die Familie Ostern in Bardstown, das als Bischofssitz über eine bekannte alte Kathedrale verfügt. Die restaurierte Plantage auf dem Federal Hill in Bardstown, die nach dem von Stephen Foster 1853 komponierten Lied “My Old Kentucky Home” benannt ist, steht zur Besichtigung offen. In der Old Stone Inn können wir ein auf Kentucky Art köstlich zubereitetes Ostermahl geniessen. Von Bardstown geht die Reise über Louisville und Indianapolis direkt nach Norden zurück nach South Bend. Damit kommt diese weite und sehr lehrreiche Rundfahrt zu einem glücklichen Abschluss.

Die grosse Überraschung

Die grosse Überraschung dieser Reise war die kleine Stadt Bardstown in Kentucky. Central Kentucky gehört zu den ältesten Siedlungsgebieten westlich der Appalachen. So wurde Bardstown bereits 1788 gegründet. Wenig bekannt ist die Tatsache, dass Louis-Philippe von Orleans (1773-1850), der spätere König Louis-Philippe von Frankreich, auf der Flucht vor der Französischen Revolution den Winter von 1796 in der Old Stone Inn in Bardstown verbracht hatte. Während des langen Winters hat Louis-Philippe an den Wänden seines Zimmers al fresco gemalt. Er stellte darauf in allegorischen Figuren den Untergang der Alten im Kontrast zum Aufblühen der Neuen Welt dar, wobei er spezifisch seine Auffasung vom “bon sauvage,” dem edlen Wilden zum Ausdruck brachte. Aus Dankbarkeit für die erwiesene Gastfreundschaft hat Louis-Philippe als König von Frankreich der St. Joseph Kathedrale von Bardstown einige Gemälde geschenkt, die der Schule von Van Dyck zugeschrieben werden.

Beobachtungen und Reiseeindrücke

Indiana und Illinois haben reiche Agrargebiete, in denen sich zum Teil auch grosse Industriezentren entwickelt haben; durchwegs sehr hoher Lebensstandard mit aufstrebenden Gemeinwesen.

Das Rassenproblem hat sich weitgehend in die Ghettos der Grossstädte verlagert, wo es eine ernste Gefahr darstellt und einer dringenden Lösung bedarf.

Mississippi und Ohio bilden eine klare Kulturgrenze zwischen Norden und Süden. Während die Agrargebiete in Indiana und Illinois blühen und gedeihen, bietet selbst ein Grenzstaat wie Kentucky auf weiten Strecken ein Bild der Verarmung und Verlassenheit.

Was dem europäischen Reisenden besonders auffällt, ist die historische Kontinuität der amerikanischen Institutionen. Dies trifft zunächst auf die seit der Gründung der Union 1789 fortbestehende politische Ordnung zu. Umschichtungen, Veränderungen der öffentlichen Einrichtungen sowie Grenzverschiebungen, wie sie in Europa durch Revolutionen und Kriege hervorgerufen wurden, fehlen hier gänzlich. Man gewinnt hier unbedingt den Eindruck einer ausserordentlichen Stabilität der politischen Verhältnisse.


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