University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


Notre Dame, 6. Juni 1964

Barry Goldwater in Kalifornien

Senator Barry Goldwater von Arizona hat bei der Primary in Kalifornien einen entscheidenden Sieg davongetragen. Die 86 Delegiertenstimmen der Republikaner in Kalifornien fallen Goldwater zu. Damit ist mit grosser Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass Goldwater auf dem Parteikongress in San Francisco die Nominierung der Republikanischen Partei erhält. Er wäre dann aller Voraussicht nach der Gegenkandidat von Johnson im Wahlkampf um die Präsidentschaft. Die ultrakonservative Haltung von Goldwater erfüllt selbst seine republikanischen Parteigänger, die eine “stop Goldwater campaign” gestartet haben, mit Unbehagen. Allein der Gedanke, dass Goldwater möglicherweise ins Weisse Haus einziehen könnte, hat insbesondere auch in den europäischen Blättern eine heftige Reaktion ausgelöst.

Notre Dame, 10. Juni 1964

Cloture-Abstimmung im Senat

Heute hat der Senat mit 71:29 Stimmen “cloture,” die Beendigung des uneingeschränkten “filibuster” beschlossen. Die Annahme der “Civil Rights Bill” wurde seit Monaten durch die Taktik des Dauerredens immer wieder verschoben. Ein Senator aus West Virginia hat in der vergangenen Nacht eine Marathonrede gehalten, die von 6 Uhr abends bis 8:50 Uhr frûh dauerte.* Von nun an steht jedem Senator nur mehr eine Stunde Zeit zur Verfügung, sich zur Gesetzesvorlage für das Bürgerrecht zu äussern. Die Chancen zur Annahme der “Civil Rights Bill” sind nun zusehends gestiegen.

[“Cloture,” d.h. die Beendigung von Dauerreden als Obstruktionstaktik, wurde erst 1917 im Senat eingeführt. Es bedarf einer Zweidrittelmehrheit, um “cloture” zu erreichen. Das geschah bei der Abstimmung vom 10. Juni 1964 im Zusammenhang mit der Debatte über die “Civil Rights Bill.” Während jedem Senator sonst uneingeschränkte Redezeit zur Verfügung steht, wird diese durch “cloture” meistens auf eine Stunde eingeschränkt.]

*[Senator Robert C. Byrd, Demokrat von West Virginia, hatte sich dem “filibuster” der Demokraten aus den Südstaaten angeschlossen. In der Nacht vom 9. auf den 10. Juni 1964 hielt er die längste Rede, die mehr als 14 Stunden dauerte.]

[Das akademische Jahr an der University of Notre Dame wurde mit den Commencement Exercises vom 6. und 7. Juni abgeschlossen. Meine Familie und ich verliessen Notre Dame Mitte Juni und traten die lange vorausgeplante Fahrt mit dem Auto die Grossen Seen entlang nach Boston an. Die Reise ging zuerst in nordwestlicher Richtung quer durch Illinois über Galena nach Waverly, Iowa, wo wir am Wartburg College Bekannte, eine Lutheranische Pastorenfamilie besuchten. Von Waverly fuhren wir direkt nach Norden über Minneapolis nach Duluth, Minnesota, an das Westende von Lake Superior. Von dort ging die Fahrt auf der Interstate 2 durch die endlosen Wälder des Ottawa National Forest nach Escanaba und dann die Nordküste von Lake Michigan entlang nach St. Ignace mit Besuch von Mackinac Island. Von St. Ignace fuhren wir über die Mackinac Bridge durch Michigan nach Port Huron. Nach der kurzen Strecke durch Kanada erreichten wir Niagara Falls; von dort ging die Fahrt weiter über Buffalo nach Cooperstown, New York, und schliesslich über Pittsfield, Massachusetts, nach Boston. Woimmer wir auf dieser 3.000 Meilen langen Strecke an einen Ort kamen, der von literarischem Interesse war, blieben wir stehen.]

15.-17. Juni 1964

Galena, Illinois

Galena, in der Nordwestecke von Illinois gelegen, war eine der eigenartigsten kleinen Provinzstädte, welche wir im Mittelwesten antrafen. Seine Geschichte und alte Kultur gehen auf die Mississippi-Schiffahrt zurück. Galena war bis 1850 die grosse “Metropole” im Westen, eine Rolle, die nach 1850 von San Francisco übernommen wurde. Es war die Heimatstadt von Ulysses Grant. Der Reichtum der Stadt beruhte auf den Bleiminen. Herman Melville war im Sommer 1840 nach Galena gekommen, um seinen Onkel zu besuchen. Die Reise über die Grossen Seen nach Galena, dann den Mississippi abwärts und auf dem Ohio River zurûck nach Albany, New York, hat einen nachhaltigen Einfluss auf sein Prosaschaffen hinterlassen.

[Escanaba, Michigan], 20. Juni 1964

The Center of the Lutheran Church

Wisconsin, Iowa und Minnesota bilden das Zentrum der Lutheranischen Kirche in Amerika. Dies geht auf die starke Einwanderung im 19. Jahrhundert aus Skandinavien, hauptsächlich aus Norwegen und Schweden, zurück. Die Kirche war bei der Besiedlung dieser weiten, einsamen Gebiete eine unentbehrliche Lebensstütze. Sie war auch das geistige Zentrum für Schule und kulturelle Entwicklung. Eine Reihe der bekannten privaten Colleges in diesen Staaten sind Lutheranische Gründungen.

St. Ignace, Michigan, 21. Juni 1964

Das französische Missionsgebiet

Auf der Upper Peninsula (Oberen Halbinsel) von Michigan überwiegen französische Ortsnamen und topographische Bezeichnungen wie Sault [su: ] Ste. Marie, St. Ignace, Pt. aux Chanes, Epoulette, Manistique, Marquette und viele andere mehr. Das war im 17. und 18. Jahrhundert das Einzugsgebiet der französischen explorateurs und missionnaires. Das Missionsgebiet des Jesuitenordens erstreckte sich von Quebec ausgehend über die Grossen Seen. Der französische Einfluss ist heute noch überall sichtbar.

Mackinac Island

Mackinac Island war eine Überraschung. Es ist ohne Zweifel im Sommer eines der schönsten Ferienplätze des Mittelwestens. Die kleine Insel, die man mit der Fähre von St. Ignace aus erreicht, liegt vor den Straits of Mackinac, welche den Lake Huron mit dem Lake Michigan verbinden. Dieser wichtige Verbindungsweg wurde 1634 von dem explorateur Jean Nicolet (1598-1642) entdeckt. Durch ihre Lage war die Insel während der Kolonialzeit von besonderer strategischer Bedeutung. Mackinac Island war ein wichtiger Ausgangspunkt für die Erschliessung des nordamerikanischen Kontinents sowie ein Umschlagplatz für den Pelzhandel. Der Jesuitenmissionar Père Jacques Marquette (1637-75) gründete die Ortschaft St. Ignace am gegenüberliegenden Seeufer. Er war von hier aus 1673 bis an den Mississippi vorgedrungen und hatte dadurch für La Salle den Weg zur Erschliessung des Mississippi bis zur Mündung bereitet. Fort Mackinac spielte noch im Krieg von 1812 eine entscheidende Rolle. Heute ist Mackinac Island nur mehr ein beliebter Touristentreffpunkt. Da auf der Insel keine Autos erlaubt sind, fährt man mit einem Pferdewagen zu den sehenswerten Plätzen, unter denen das gut erhaltene Fort mit Aussichtsterrasse und Restaurant an erster Stelle rangiert.

St. Ignace, 21. Juni 1964

Senate Adopts Civil Rights Bill

Am Freitag, den 19. Juni, hat der US-Senat in einer Abstimmung von historischer Bedeutung die “Civil Rights Bill” mit 73:27 Stimmen angenommen. Es bedarf nur mehr der Unterschrift von Präsident Johnson, dass dieses umstrittene Bundesgesetz in Kraft tritt.

[Wie aus dem Congressional Record hervorgeht, war die Abstimmung im Senat vom 19. Juni zum Civil Rights Act of 1964 (Bill H.R. 7152) eine Anerkennung für John F. Kennedy. Senator George McGovern führte dazu aus: The Civil Rights Law “was passed in tribute to John F. Kennedy, who on June 19, 1963 had sent a message to Congress calling for the passage of a comprehensive civil rights law.” (Congressional Record, 88th Congress, Second Session, vol. 110, pt. 11, p. 14,432).]

Port Huron, Michigan, 22. Juni 1964

Von St. Ignace fuhren wir zuerst über die Mackinac Bridge. Diese erst 1959 dem Verkehr übergebene Brücke überspannt die Strasse von Mackinac und verbindet die Obere mit der Unteren Halbinsel von Michigan. Die Tagesreise ging dann auf der Interstate Highway 75 südlich nach Flint und von dort östlich hierher nach Port Huron an der Grenze zu Kanada. Die Strassen, Parkanlagen und Raststätten von Michigan sind auffallend gut gepflegt, was dem nördlichen Teil des Staates als Feriengebiet sehr entgegenkommt.

Niagara Falls, Ontario, Canada, 23. Juni 1964

Die kurze Strecke durch die Provinz Ontario brachte uns nach Niagara Falls. Die kanadische Seite bietet den besten Blick auf das einmalige Naturschauspiel der Niagara Fälle, während die amerikanische Seite es ermöglicht, mit einem Schutzmantel knapp an die Fälle heranzukommen.

Cooperstown, New York, 26. Juni 1964

The Gem Cooperstown

Nach der langen Fahrt von Buffalo nach Albany war der Abstecher durch das Mohawk Valley nach Cooperstown eine willkommene Abwechslung. Die kleine Stadt liegt wie ein Juwel am Lake Otsego. Sie ist nach ihrem Gründer Judge William Cooper, dem Vater des Autors James Fenimore Cooper (1789-1851), benannt. Die Siedlung Cooperstown entstand um 1800, einige der ursprünglichen Gebäude sind noch erhalten. Das Cooper Erbe, sowohl in Bezug auf die Familie wie auch auf die Werke des Autors, wird vortrefflich betreut. Cooperstown war die ursprüngliche Heimat des Autors, aus der er den Stoff für die Lederstrumpferzählungen schöpfte. Lake Otsego und die Quelle des Susquehanna River bilden den authentischen Hintergrund für The Pioneers (1823), den ersten Roman in der Reihe der fünf “Leatherstocking Tales.” Heute ist Cooperstown ein beliebtes Ausflugsziel und der Anziehungspunkt für Baseball Fans aus aller Welt, da hier die Baseball Hall of Fame beheimatet ist.

Pittsfield, Massachusetts, 28. Juni 1964

Arrowhead

Die Farm Arrowhead war fest verschlossen, wie überhaupt das ganze Anwesen verfallen aussah.

[Pittsfield liegt in den Berkshire Hills im westlichen Massachusetts. Der dortige Aufenthalt bot die Gelegenheit, die Farm Arrowhead zu besuchen, wo Herman Melville 1850-51 Moby-Dick geschrieben hatte. Erst Jahre später hat die Melville Society Arrowhead, diesen für die amerikanische Literatur doch bedeutungsvollen Platz übernommen, das Farmhaus renoviert und darin ein Museum mit Melville Memorabilien eingerichtet.]

[Ich hatte bereits in Innsbruck mit einem Fulbright-Gastprofessor in Österreich ein Abkommen getroffen, dass meine Familie und ich während unseres sechswöchigen Aufenthaltes in Boston in seinem Heim in West Newton verbringen konnten. Von dort fuhr ich fast täglich nach Cambridge an die Harvard University, um in der Houghton Library meiner Forschungsarbeit nachzugehen. Ich hatte die Erlaubnis, die Thomas Wolfe Manuskripte einzusehen. Gerade zu jener Zeit wurde der umfangreiche literarische Nachlass von Thomas Wolfe in der William P. Wisdom Collection für die Forschung freigegeben. Richard S. Kennedy und Paschal Reeves hatten im Sommer 1964 an der Houghton Library mit der Herausgabe der Tagebücher von Thomas Wolfe begonnen, die 1970 in einer zweibändigen Ausgabe als The Notebooks of Thomas Wolfe veröffentlicht wurden. Paschall Reeves hatte mich auf die Tagebuchaufzeichnungen von Thomas Wolfe über Europa aufmerksam gemacht. Daraus ergab sich schliesslich die Idee zu Jason's Voyage: The Search for the Old World in American Literature, das als Buch 1989 erschienen ist.]


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