Die Universitätsrevolte
Durch die amerikanischen Universitäten und Colleges geht derzeit eine Revolutionsbewegung, deren Auswirkungen noch nicht abzuschätzen sind. Vor allem sind davon die Staatsuniversitäten in Kalifornien betroffen, doch haben die Unruhen in Wisconsin und Indiana, an der Harvard und Cornell University ebenso alarmierend gewirkt. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen am New York City College haben gezeigt, dass die Universitätsrevolte auch mit der Rassenfrage verbunden ist. Zu den Ursachen dieser Unruhen gehören die Auflehnung gegen den Krieg in Vietnam, dann aber auch das Aufbegehren der Jugend gegen die hergebrachte Mittelstandsmoral. Als besonderes Merkmal der amerikanischen Universitätsrevolte fällt ihre Richtungslosigkeit auf. Es besteht kein gemeinsames Anliegen zwischen Studenten, Arbeitern und Farmern wie dies weitgehend in Europa, Asien und Lateinamerika der Fall ist. Die Universitätsrevolte in Amerika schockiert durch ihren Radikalismus, sie hat aber keine Breitenwirkung. Es besteht keine Gefahr, dass dadurch das Land lahmgelegt wird, oder dass das höhere Bildungswesen eingestellt würde. Im Gegenteil, die Universitäten und Colleges werden aus dieser Krise gereifter hervorgehen und in der Zukunft besser für ihre Aufgabe gerüstet sein, die rund 12 Millionen junge Menschen in ihren Mauern zu beherbergen und auszubilden.
South Bend, [Anfang Juni] 1969
Der Provinzialismus
Die menschliche Natur neigt zum Provinzialismus. Es ist der verständliche Hang zur Geborgenheit, sowie am Bekannten und Gewohnten festzuhalten. Der vertraute Gesichtskreis verleiht ein Gefühl der Sicherheit und des Behagens. Es ist auch die Bequemlichkeit, die sich in der von Jugend an gewohnten Lebensweise am wohlsten fühlt. Der Provinzialismus ist überall anzutreffen, hier in Indiana genauso wie zu Hause in Österreich, in Deutschland, Frankreich oder Italien. Er schliesst das Fremde aus, verharrt mit zäher Beständigkeit in Misstrauen gegen das Unbekannte und hält an Vorurteilen fest. Der Provinzialismus ist der eigentliche Hemmschuh für die internationale Verständigung. Ihn gilt es durch eine über die regionalen Grenzen hinausgreifende Erziehung zu überwinden. Es gilt aus dem beschränkten lokalen Gesichtskreis auszubrechen und die grösseren Zusammenhänge zu sehen. Vor allem bedarf es der Bereitschaft, auch die Eigenarten anderer Lebensweisen zu verstehen und schätzen zu lernen. Nur so wird es möglich sein, die rasch zusammenwachsenden Kontinente geistig zu bewältigen und die Grundlagen für eine weltoffene, humane Menschheitskultur zu schaffen.
[Für die zwei Studienjahre 1969-71 wurde mir die Leitung des Notre Dame Überseestudienprogramms in Innsbruck übertragen. Meine Familie und ich flogen noch im Juni von Chicago über Zürich nach Innsbruck zurück.]
Chicago, O'Hare, 18. Juni 1969
Ost und West in ähnlicher Sicht
Von hier aus fliegt ein Teil der Fluggäste nach Asien und der andere nach Europa. Wie verschieden sie auch sein mögen, bieten sich die asiatischen wie die europäischen Probleme in ähnlicher Sicht an. Beide Bereiche betreffen politische Fragen, die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen sind und am Rande der amerikanischen Einflusssphäre liegen. Dies trifft besonders auf Japan und Westdeutschland zu. Beide Länder haben unter dem Schutz der amerikanischen Atommacht und mit amerikanischer Wirtschasftshilfe einen bisher noch nie gekannten Wohlstand erreicht. Japan und die Bundesrepublik sind nach den Vereinigten Staaten zu den stärksten Industrieländern der Welt aufgerückt. Der japanische Export in die USA ist so stark, dass es kaum mehr möglich ist, einen Gebrauchsartikel in die Hand zu nehmen, der nicht in Japan erzeugt wurde. Die Bundesrepublik hat die wirtschaftliche Führung in Europa übernommen, Japan diejenige in Asien. Aber beide Länder spielen im Vergleich zu ihrer wirtschaftlichen Bedeutung eine untergeordnete aussenpolitische Rolle. Hier treffen Asien und Europa mit fast gleichen Ansprüchen aufeinander. Für Amerika bleibt keine andere Wahl, als beiden gerecht zu werden. Wenn ein Japaner oder Koreaner von hier aus nach Hause fliegt, dann unterscheidet sich das von dem Heimflug des Europäers nach Frankfurt, Rom oder Amsterdam nicht wesentlich. Die Geschäftsdelegation aus Tokio verfolgt die gleichen Interessen wie diejenige aus München oder Mailand. Beide stehen hier in hohem Ansehen und werden gleich behandelt. In diesem Sinne strahlt Chicago eine kosmopolitische Atmosphäre aus. Hier treffen sich Vertreter aus den verschiedenen Ländern Asiens und Europas ungezwungen und in einer Vielfalt, wie sie anderswo in der Welt selten anzutreffen ist.
Mid-Atlantic, 19. Juni, 3 Uhr früh, 1969
In einer Swissair DC-8 wird die Strecke Chicago Zürich mit einer Zwischenlandung in Montreal in knappen acht Stunden bewältigt. Schon zwei Stunden nach Montreal, gegen 1 Uhr früh, zeigt sich das erste Morgenrot am Horizont. Um 3 Uhr früh ist es schon heller Tag, wobei die irische Küste unter der Wolkendecke bald durchscheinen wird. In dieser Zwischenphase über dem Atlantik liegen die Gedanken zum Teil noch am nordamerikanischen Kontinent zurück, während andererseits Europa und die gewohnte Umgebung der engeren Heimat wieder plastisch vor Augen treten. Der moderne Jet-Verkehr überbrückt die Distanz, welche die beiden Kontinente durch Jahrhunderte hindurch weit voneinander getrennt hatte, in unwahrscheinlich kurzer Zeit. Auf diese Weise werden die Lebensgewohnheiten hüben wie drüben aufs engste miteinander verbunden. Man schläft am Vorabend mit Johnny Carson ein und wacht am nächsten Tag mit Heinzi Conrads auf.* Und trotzdem bleiben die eigentliche Verständigung und Nachrichtenübermittlung noch denkbar unzulänglich.
*[Johnny Carson, wohl der bekannteste Humorist in Amerika in den 60er-, 70er- und 80er- Jahren, trat jeden Abend in der Tonight show von NBC auf. Heinz Conrads, der beliebteste Conferencier in Österreich, leitete zur gleichen Zeit am Wochenende die Unterhaltungssendungen im ORF (Österreichischen Rundfunkt und Fernsehen).]
Was lässt man in Amerika zurück, und was erwartet einen in Europa? Man lässt gewiss die grosszügigere Lebensweise zurück und wird sich wieder an engere, kleinlichere und umständlichere Verhältnisse gewöhnen müssen. Man hat in Amerika das Gefühl, der Zeit auf den Puls zu fühlen und die Ereignisse, welche heute das Weltgeschehen bestimmen, unmittelbar mitzuerleben. Europa hingegen steht mehr im Schatten der Weltereignisse, sodass deren richtige Einschätzung verloren geht. Es wird einem wieder bewusst, dass Europa in einem Provisorium lebt, wofür sich noch keine Lösung abzeichnet. Und trotzdem, wie gerne fährt man doch in das alte Europa zurück. Man freut sich darauf, die Heimat wiederzusehen, die prachtvolle Gebirgslandschaft in der Schweiz und in Österreich geniessen zu können, so wie man sich darauf freut, eine echte gotische Kathedrale zu besuchen, in Musse durch die mittelalterliche Altstadt von Innsbruck zu schlendern und eine Oper bei den Salzburger Festspielen zu hören.
Kulturell ist Europa ein Kleinod, das man schätzen und pflegen soll. Die Sehnsucht nach dem kulturellen Europa hält in Amerika unvermindert an, sie ist tief im amerikanischen Wesen verwurzelt. Durch Tourismusattraktion allein wäre es sonst nicht zu erklären, dass jedes Jahr Millionen von Amerikanern nach Europa kommen.