Der politische Wandel in Österreich
Bei den österreichischen Nationalratswahlen vom 1. März errang die Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ) die relative Mehrheit. Es war den Sozialisten gelungen, in die Stammwählerschichten der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) auf dem Lande in den westlichen Bundesländern einzudrigen sowie die Stimmen der Wechselwähler und Jungwähler für sich zu gewinnen. Dadurch ist in Österreich ein politischer Wandel, eine grundlegende innenpolitische Umschichtung geschehen. Die durch eine 25-jährige Regierungstätigkeit ermüdete, abgenützte und stagnierende Volkspartei musste die Führung an die Sozialisten abtreten. Die sehr ruhig verlaufenen Wahlen haben wiederum die demokratische Reife des Landes unter Beweis gestellt. Dr. Bruno Kreisky, der diese Wahlen dominierte, wird nun als Bundeskanzler die Gelegenheit geboten, das sozialistische Konzept von einem modernen Österreich in die Tat umzusetzen. Die neue Mandatsverteilung im Nationalrat lautet: 81 SPÖ; 79 ÖVP; und 5 FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs).
Für viele konservative Kreise in Österreich kam der sozialistische Wahlsieg wie ein Vorbote vom Weltuntergang, obwohl im Grunde gar nicht so viel passiert ist. Der Wähler hat auf das erneuerte Image der Sozialistischen Partei vertraut, die ihr austro-marxistisches Erbe weitgehend abgestreift hat. Vor allem aber ging das Vertrauen der Wählerschaft an die Person von Bruno Kreisky, die glaubhaft für die demokratischen Grundsätze westlicher Prägung eintritt.
[Bruno Kreisky, Jurist, Diplomat, Politiker, wurde 1911 in Wien geboren; ab 1927 Tätigkeit in der Sozialistischen Arbeiterjugend, 1935-36 inhaftiert, 1938-45 im Exil in Schweden. Von 1945-51 diente Kreisky als österreichischer Botschafter in Stockholm; als Staatssekretär im Bundeskanzleramt 1953-59 massgeblich an den Verhandlungen zum Abschluss des österreichischen Staatsvertrages 1955 beteiligt. Kreisky war von 1959-66 österreichischer Aussenminister; ab 1967 Vorsitzender der SPÖ; 1970-83 Bundeskanzler. Gestützt auf die absolute sozialistische Mehrheit im Nationalrat konnte er von 1971-83 die für die Kreisky-Ära massgeblichen innenpolitischen Reformen durchführen. Kreisky starb am 29. Juli 1990 in Wien.]
Innsbruck, 5. März 1970
Wenn heute die 43 Signatarstaaten die Ratifizierungsurkunden in Washington, London und Moskau hinterlegen, tritt der Non-Proliferation Treaty, der Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen in Kraft.
Der freiwillige Verzicht auf die Entwicklung, Weiterverbreitung und Anwendung von Kernwaffen ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Selbsterhaltung der Menschheit.
Innsbruck, 19. März 1970
Das Erfurter Treffen
Zum erstenmal seit zwanzig Jahren hatten sich wieder offizielle Regierungsvertreter aus Ost- und Westdeutschland an den Verhandlungstisch gesetzt. Bundeskanzler Willy Brandt hatte sich nach Erfurt in Thüringen begeben, um mit dem ostdeutschen Premier Willi Stoph zusammenzukommen. Bei diesem Treffen wurden unterschwelig Emotionen frei, von denen niemand mehr glaubte, dass sie existierten. Sympathiekundgebungen brachen für Willy Brandt aus. Es bleibt die Frage offen, wieweit das ostdeutsche Regime es sich wird leisten können, diesen freien Lauf zu lassen.
Es kann kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass am Ende der nun eingeleiteten Verhandlungen die völkerrechtliche Anerkennung der DDR steht, und als Gegenleistung dafür Erleichterungen in den menschlichen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten zu erwarten sind. Die ganze Welt hat sich bereits daran gewöhnt, von zwei deutschen Staaten zu sprechen, sodass die Leugnung ihrer Existenz wie ein Anachronismus anmutet.
Die ganze Entwicklung in Europa läuft im Angenblick darauf hinaus, dass der Status quo erhalten bleibt. Das heisst, dass die Grenzen, wie sie durch den 2. Weltkrieg geschaffen wurden, bestehen bleiben und vertraglich abgesichert werden. Jede andere Lösung entrückt immer mehr in den Bereich des Wunschdenkens und der Utopie.