University of Notre Dame
Archives   


The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


[Über die Osterferien vom 3. bis 14. April machten meine Familie und ich eine Besichtigungsreise nach Washington, DC.]

Washington, Ostern 1969

Washington anders gesehen

Wenn man nach Washington kommt, ist man im Vergleich zu den europäischen Hautpstädten von der Sachlichkeit der Regierungsgebäude überrascht. Washington kennt wenig Prunk. Diese nach schlichtem republikanischen Muster eingerichtete Verwaltungsstadt wurde von der Führungsrolle überrascht, die sie plötzlich übernehmen musste. Wenig deutet darauf hin, dass hier Weltpolitik im grossen Stil gemacht wird. Wir kamen gerade in der Pennsylvania Avenue zurecht, als der Hubschrauber mit König Hussein von Jordanien an Bord auf dem Rasen vor dem Weissen Haus landete. Zur gleichen Zeit trafen sich die Aussenminister der 15 NATO Staaten zum zwanzigjährigen Jubiläum des Nordatlantischen Verteidigungspaktes in Washington. In beiden Fällen wurden ohne viel Aufhebens weitreichende weltpolitische Fragen behandelt. Mit König Hussein besprach Präsident Nixon den Konflikt im Nahen Osten, und mit den NATO Partnern wurde eine neue Friedensordnung für Europa erwogen.

Das Weisse Haus kann den Aufgaben, die es zu bewältigen hat, kaum mehr Genüge tun. Einerseits reiht sich ein Staatsempfang an den anderen, andererseits stellen sich Tausende von Touristen an, um Zugang zu den Führungen durch die historischen Räume zu bekommen. Die Gesamtanlage des Weissen Hauses ist denkbar klein und bescheiden. Sie kommt mehr dem Charakter einer durchschnittlichen Stadtvilla gleich als dem Wohn- und Regierungssitz des Präsidenten. Es wäre nicht zu verwundern, wenn eines Tages ein neuer Wohnsitz für den amerikanischen Präsidenten gewählt würde, und das Weisse Haus nur mehr als Museum zur Verfügung stünde.

[Das “White House” liegt auf einem Grundstück von 18 acres oder 7.3 Hektar an der Pennsylvania Avenue. Der Bau dieses einfachen im “Georgian Palladian” Stil errichtete Herrenhaus wurde bereits 1792 von George Washington begonnen.]

Washington macht immer noch einen provinziellen Eindruck. Es gibt kein renommiertes Theater, keine Oper, keine nennenswerte Symphonie. Kein Wunder, dass sich die ausgedehnte diplomatische Vertretung entlang der Embassy Row oft langweilt.

[Das John F. Kennedy Center for the Performing Arts wurde 1971 eröffnet. Dieses Gebäude am Potomac gab Washington schliesslich ein Zentrum für die darstellende Kunst, das in einem grossangelegten Komplex Bühne, Konzertsaal und Opernhaus verbindet.]

Ein besonderes Problem für die Stadt stellt das ausgedehnte schwarze Ghetto dar. Die Stadt hat derzeit eine Negerbevölkerung von rund 70%, die in den ärgsten Slums auf der Nordseite der Stadt lebt. Die Slums breiten sich gleich hinter dem Weissen Haus und den Regierungsgebäuden aus. Die Hauptstadt hat als Arbeitsgeberin die farbige Bevölkerung aus dem Süden aufgenommen, damit aber auch ein schwer zu lösendes Problem der Innenstadt geschaffen. Die Innenstadt ist zu unsicher geworden, als dass jemand nach Einbruch der Dunkelheit sich darin noch aufzuhalten wagt. Nach dem Besuch der Museen und dem Büroschluss der Ämter wird die Stadt fluchtartig verlassen, sodass sie am Abend wie ausgestorben wirkt.

[Während der vergangenen Monate wurde an der University of Notre Dame mein “tenure”-Verfahren durchgeführt, das über die Bestellung als Professor auf Dauer entschied. Nach der Rückkehr aus Washington fand ich zu meiner freudigen Überraschung den “tenure”-Vertrag in der Post vor, der meine Ernennung zum Associate Professor auf Dauer bestätigte. Da eine andere Universität nicht mehr in Erwägung gezogen wurde, war meine Bindung an Notre Dame zeitlebens besiegelt. Damit stand für mich und meine Familie auch die Emigration nach den Vereinigten Staaten fest.]

[Durch die Vermittlung von Professor Lothar L. Tresp von der University of Georgia wurde ich zu einem Gastvortrag am Wesleyan College in Macon, Georgia, eingeladen. Da der Vortrag für den 24. April festgesetzt war, hatte ich den Flug von Chicago nach Atlanta für den vorherigen Tag gebucht.]

Chicago, O'Hare, 23. April 1969

Von Chicago nach Atlanta: Der Binnenflugverkehr in Amerika

Wer von Europa nach Amerika kommt, wird mit Erstaunen feststellen, dass der internationale Flugverkehr nur ein Anhängsel zum Binnenflugverkehr in Amerika darstellt. Das beste Beispiel dafür bietet der O'Hare Flughafen von Chicago. Durch den inneramerikanischen Flugverkehr ist O'Hare zum grössten und frequentiertesten Flughafen der Welt geworden. Nordamerika wird hier an einem Schnittpunkt zusammengefasst. Von hier aus ist in wenigen Stunden jedes Reiseziel von Miami, Florida, bis Anchorage, Alaska zu ereichen. Atlanta, Georgia, ist nur eineinhalb Flugstunden entfernt. Fliegen ist für die breite Bevölkerung zur allgemeinen Gepflogenheit geworden. Der moderne Flugverkehr und das Fernsehen haben den Kontinent zu einer fühl- und überschaubaren Einheit zusammengeschlossen.

Macon, Georgia, 25. April 1969

Der alte Süden

[Eine Zubringermaschine hatte mich von Atlanta in das 80 Meilen südlich davon gelegene Macon gebracht. Die Aufnahme am Wesleyan College war überaus herzlich. Dieses kleine, 1836 gegründete Liberal Arts College war das erste Women College in Amerika, wenn nicht überhaupt die erste höhere Bildungsanstalt für Frauen in der Welt. Der Vortrag mit dem Thema, “The Image of Europe in American Literature” (Das Europabild in der amerikanischen Literatur), wurde mit grossem Interesse aufgenommen.]

Hier bekommt man noch einen Einblick in die Kultur des alten Südens, wie sie im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert blühte. Im Süden entstanden die ersten bedeutenden Staatsuniversitäten sowie eine Reihe von bekannten Colleges. Die Lebensform war von aristokratischer Eleganz, von der heute noch ein Abglanz zu spüren ist. Aber zugleich sind auch die Spuren des Verfalls und der provinziellen Abgeschiedenheit nicht zu übersehen. Milledgeville, die alte Hauptstadt von Georgia vor dem Bürgerkrieg, liegt nur einige Meilen östlich von hier. Nachdem Atlanta 1867 die Rolle der Hauptstadt übernommen hatte, verfiel Milledgeville zur vergessenen Provinzstadt. Trotz der vom Norden stark vorangetriebenen Industrialisierung, ist Georgia noch weitgehend ein Agrarland geblieben. Die Baumwollproduktion ist zwar zurückgegangen, dafür wachsen hier die besten Pfirsiche im Lande.

Aus der Kolonialgeschichte von Georgia: Die Salzburger in Ebenezer

[Der Landstrich zwischen den Carolinas und dem spanischen Florida wurde von General James E. Oglethorpe (1696-1785) 1733 als britische Kolonie gegründet und nach König Georg II. “Georgia” genannt. Oglethorpe, der zum Gouverneur der neuen Kolonie bestellt wurde, förderte die Einwanderung von verfolgten protestantischen Glaubensgemeinschaften aus Europa. Dies erleichterte die Ansiedlung der Salzburger Protestanten gleich nach der Gründung der Kolonie. Von 1730-40 wurden an die 19.000 Protestanten im Fürsterzbistum Salzburg des Landes verwiesen. Sie zogen zuerst nach Augsburg, wo sie von der lutherischen Mission betreut wurden. Viele von ihnen gingen nach Ostpreussen, aber einige Hunderte entschlossen sich, in die neue Kolonie Georgia auszuwandern. Professor Tresp, der sich als Historiker mit dem Thema der Salzburger Emigranten in Georgia beschäftigte, hatte mich auf die Salzburger Siedlung Ebenezer aufmerksam gemacht.

Die Salzburger Emigranten standen unter dem Schutz der Franckeschen Waisenhaus-Stiftung zu Halle. Die von dem protestantisch-pietistischen Theologen August Hermann Francke (1663-1727) gegründeten Stiftungen - Waisenhäuser, Spitäler, Schulen sowie Missionen zur Glaubensverkündung - gehörten zu den bedeutendsten philanthropischen Einrichtungen ihrer Zeit. Die Stiftung stellte zwei Pastoren zur Verfügung, welche die Salzburger in die unbekannte neue Welt begleiteten. Pastor Johann Martin Bolzius übernahm die Leitung der Salzburger Siedlung in Georgia. Der erste Transport mit 42 Personen erreichte Savannah an der Atlantikküste im März 1734. Weitere drei Transporte mit je 50 Personen, meistens Familien, folgten in den nächsten Jahren. Pastor Bolzius legte die Salzburger Siedlung Ebenezer 20 Meilen landeinwärts von Savannah an. Als erstes baute er das Waisenhaus, um das sich schrittweise die Siedlung entwickelte. Das Waisenhaus bot elternlosen Kindern Unterkunft, nahm sich auch bedürftiger Personen an, war als Spital eingerichtet, diente als Schule und auch als Bethaus, bis die Kirche gebaut wurde. Es war der zentrale Raum für die geistliche Betreuung und im Notfall auch der soziale Schutz für die Gemeinde.

Pastor Bolzius, der sich seiner besonderen Aufgabe voll berwusst war, hielt ein Tagebuch, in welchem er die Entwicklung der Siedlung aufzeichnete. Diese Aufzeichnungen, zusammen mit den Briefen, die er laufend an Pastor Urlsperger nach Augsburg sandte, gaben einen lebendigen Rechenschaftsbericht über den Fortschrit der Kolonie. Samuel Urlsperger, Pastor der evangelischen Hauptkirche S. Anna zu Augsburg, hatte sich besonders der Salzburger Emigranten angenommen. Er stellte in Augsburg die Transporte für die Auswanderung nach Georgia zusammen, kümmerte sich um den Fortgang des Unternehmens und warb um Geldspenden für das Waisenhaus. Urlsperger fand die Berichte von Bolzius aufschlussreich genug, dass er sie im Verlag des Waisenhauses zu Halle herausgab. Sie erschienen unter dem Titel, “Der Ausführlichen Nachrichten von der Königlich-Gross-Brittannischen Colonie Saltzburgischer Emigranten in America,” vols. I (1735-40), II (1741-46), III (1747-52).

Ich konnte die 3 Bände von Urlsperger in der Library der University of Georgia einsehen. Die Siedler kamen u.a. aus Werfen und Radstadt, Namen wie Steiner, Kogler und Schweighofer stammten zweifelsohne aus dem Salzburgischen. Trotz des pietistischen Gefühlsüberschwanges sind die Aufzeichnungen von Bolzius zum Tagesablauf und den Lebensbedingungen in der Kolonie bis ins kleinste Detail genau. Sie berichten von den anfänglich wirtschaftlichen Schwierigkeiten; Krankheiten und Todesfällen; erwähnen das gute Verhältnis, welches Bolzius zu Governor Oglethorpe und der Kolonialverwaltung in Savannah pflegte; schildern den Versuch, verschiedene Pflanzungen anzufangen; die Begegnung mit den Indianern; und weisen auf die Schwierigkeiten hin, einen Englischlehrer zu finden. Die Salzbuger Siedler sprachen sich entschieden gegen die Einführung der Sklavenhaltung in Georgia aus. Aber trotz verschiedener Widerstände überwogen schliesslich doch die wirtschaftlichen Interessen, sodass durch Parlamentsbeschluss in London 1749 die Sklaverei in der Kolonie Georgia eingeführt wurde.

Die auf den Tagebüchern von Bolzius beruhende, umfassende Studie von Lothar Tresp über das Waisenhaus in der Salzburger Kolonie, “The Salzburger Orphanage at Ebenezer in Colonial Georgia,” erschien in der Americana-Austriaca, vol. 3 (Wien: Wilhelm Braumüller, 1974), pp. 190-234. Neben den Schriften von Johann Martin Bolzius, wie sie von Samuel Urlsperger 1735-52 herausgegeben wurden, liegen noch die umfangreichen Archivalien der Waisenhaus-Stiftung zu Halle vor. In ihrer Summe bieten diese Materialien einen seltenen, wertvollen Einblick in die Lebensweise und Entwicklung einer deutschsprachigen lutheranischen Gemeinde in der frühen Kolonialzeit von Georgia.]

South Bend, Sonntag, 27. April 1969

Der Rücktritt von Charles de Gaulle

Man musste zweimal hinhören, bis man die schlicht und einfach durchgegebene Nachricht erfasste, dass der französische Staatspräsident Charles de Gaulle nach dem verlorenen Referendum prompt zurückgetreten ist. Das Ende der Gaullistischen Ära kommt so überraschend und ohne Umschweife, dass man sich erst seiner Auswirkungen bewusst werden muss. In Amerika wird der Abgang de Gaulles mit Zurückhaltung aufgenommen. Einerseits erwartet man sich eine Neubelebung des Nordatlantischen Bündnisses, eine Erleichterung für den Beitritt Grossbritanniens zur EWG, wie im allgemeinen eine Verbesserung der internen Zusammenarbeit innerhalb des Westens. Aber andererseits befürchtet man, dass Frankreich in ein wirtschaftliches und politisches Chaos abstürzen könnte. Als sicher wird die Abwertung des Franc angenommen. Es gilt nun abzuwarten, wie die Nachfolger de Gaulles imstande sein werden, die wirtschaftliche und innerpolitische Krisensituation zu bewältigen.


<< Lanzinger >>