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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


1. Oktober 1989

Soeben kam die Nachricht durch, dass heute Nacht um 2:50 Uhr Ortszeit ein Zug mit 800 ostdeutschen Flüchtlingen Warschau in Richtung BRD verlassen hat. Die Ausreise kam durch ein seltenes Abkommen zwischen NATO und dem Warschauer Pakt zustande.

South Bend, 7. Oktober 1989

Eine historische Entscheidung

Zum Wochenende traf die kommunistische Partei in Ungarn eine historische Entscheidung. Sie löste sich selbst auf und wandelte sich in eine sozialistische Partei westlicher Prägung um. Damit hat zum erstenmal eine kommunistische Partei im Ostblock aufgehört zu existieren. Gleichzeitig wurde auch der Weg zu freien demokratischen Wahlen vorbereitet. Dieses mutige Vorgehen kann auf die anderen Länder im Warschauer Pakt nicht ohne Auswirkung bleiben. Die Notwendigkeit, innere Reformen durchzuführen, wird auf die Dauer nicht mehr aufzuhalten sein.

10. Oktober 1989

Die Reaktion des DDR-Regimes auf den Massenexodus seiner Bürger war abzusehen. Es wurden wiederum die Grenzen gesperrt und verschärfte Massnahmen gegen Demonstranten ergriffen. Es kam zu Protestkundgebungen in Ost-Berlin, Dresden und Leipzig, wo an die 70.000 Menschen auf die Strasse zogen. Trotz der gespannten Lage hat die Regierung nicht mit Gewalt durchgegriffen. Es kam glücklicherweise zu keinem Blutbad.

Anmerkung

[Wie ernst und gefährlich die Lage war, geht aus einem Gespräch hervor, das Honecker mit dem chinesischen Vizepremier in Ost-Berlin hatte. Er verglich die Massendemonstrationen in der DDR mit denen am Tiananmen Platz und liess durchblicken, dass die Demonstranten ein ähnliches Schicksal treffen könnte. Siehe darüber Bush/Scowcroft, A World Transformed, p. 147.]

Nachtrag

[Erich Honecker trat am 18. Oktober von seinem Amt zurück. Als sein Nachfolger übernahm Egon Krenz die Führung der DDR, die sich bereits im Auflösungsprozess befand.]

South Bend, 25. Oktober 1989

Wohin führt der Weg?

In einer bemerkenswerten Rede vor dem Obersten Sowjet erklärte Aussenminister Eduard Shevardnadze, dass die Sowjetunion bis zum Jahr 2000 ihre Militärstützpunkte auf fremdem Boden auflösen und sich auf ihre Grenzen zurückziehen werde. Ferner sagte er, dass die Sowjetunion sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Nachbarländer - Polen, DDR, Ungarn - einmischen werde und ihnen die freie Entscheidung über ihre politische Zukunft überlasse. Das ist eine klare Absage an die Breschnew-Doktrin, die verlangt hatte, dass die Warschauer-Pakt-Staaten auch in einen ihrer Mitglieder einmarschieren, wenn der Kommunismus durch Reformbestrebungen in Gefahr kommen sollte. Wenn einmal in der Bevölkerung die Angst vor den russischen Panzern wegfällt, dann ist die Reformbewegung hin zur Demokratie in den Ostblockstaaten nicht mehr aufzuhalten.

27. Oktober 1989

Vertrauen in die Wiedervereinigung

Mit staatsmännischem Weitblick hat sich Präsident Bush zur Möglichkeit einer Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschhand geäussert. Während in den westeuropäischen Ländern, vor allem in Frankreich und Grossbritannien, Vorbehalte und Angst vor einer Wiedervereinigung aufkommen, bringt Bush keine Einwände zum Ausdruck. Im Gegenteil, er äusserte Vertrauen in die deutsche Wiedervereinigung, die er als eine zu erwartende Evolution im gegenwärtigen Demokratieprozess in Osteuropa kommen sieht. Bush ist davon überzeugt, dass ein wiedervereintes Deutschland als demokratischer Staat den Prinzipien des westlichen Bündnisses treu bleiben wird. [Interview in der New York Times, Wochenendausgabe, 25.-27. Oktober, 1989.]


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