University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


Teil I 1961 - 1971
Bügerrechtsbewegung, Demonstrationen, Weltraumflug

Abschnitt 1: 12. März 1961 – 25. September 1961

[Da der Beginn meines Forschungsaufenthaltes an der University of Pennsylvania in Philadelphia für Mitte März 1961 festgesetzt war, trat ich anfangs März die Reise in die Vereinigten Staaten an. Ich fuhr zuerst mit dem Arlberg-Express von Innsbruck nach Paris, wo ich mich für einige Tage aufhielt. Dann brachte mich der übliche “boat train” (Zug mit Schiffsanschluss) vom Gare St-Lazare nach Le Havre. Die Atlantiküberquerung erfolgte auf dem damals noch ziemlich neuen 55.000 BRT grossen Passagierschiff United States.]

New York, 12. März 1961

Der Eindruck von New York ist nach der Wiederkehr imposanter, als mir die Stadt in Erinnerung war. Nach zehn Jahren haben sich die Gesichtspunkte, unter denen man die Stadt sieht, wesentlich verschoben. New York vermittelt heute mehr als Paris den Eindruck einer Weltstadt. Was mir besonders auffällt, ist die Verschiebung in der “color line.” Hier begegnen sich Weisse und Nicht-Weisse, Asiaten, Europäer, Südamerikaner und Afrikaner mit einer Natürlichkeit, die Erstaunen macht. Auch die einheimische farbige Bevölkerung scheint sich mit den Weissen unauffällig zu vermischen. Jedenfalls haben Demonstrationen am gestrigen Nachmittag auf der Fifth Avenue gegen “Segregation at the lunch-table” weder Eindruck auf die Farbigen noch auf die Weissen gemacht.

New York, 13. März 1961

Trinity Church [On Broadway and Wall Street]

Trinity Church in Lower Manhattan (built ca. 1760) gives an idea of how the Financial District looked at the outset of its growth. Until late in the 19th century, houses there were not more than one or two stories high, whereas the skyline of Lower Manhattan now rises to dizzying heights. The Woolworth Building with its odd pseudo-gothic stucco exterior is an outstanding example of the old type of skyscrapers, while the new buildings on East 42nd Street set the pace for the modern line of architecture. The United Nations Building on the East River is the most impressive example of this new architectural design.

Die Trinity Church (Dreifaltigkeitskirche) im Unteren Manhattan (gebaut ca. 1760) vermittelt eine Vorstellung davon, wie der Finanzdistrikt zu Beginn seines Wachstums ausgesehen hat. Bis spät im 19. Jahrhundert waren dort die Häuser nicht mehr als ein oder zwei Stockwerke hoch, während sich jetzt die Skyline vom Unteren Manhattan zu schwindelnder Höhe erhebt. Das Woolworth Gebäude mit seiner seltsamen pseudo-gotischen äusseren Stuckatur ist ein hervorragendes Beispiel der alten Bauart von Wolkenkratzern, während die neuen Bauten an der Ost 42. Strasse das Vorbild setzen für die moderne Linie der Wolkenkratzerarchitektur. Das Gebäude der Vereinten Nationen am East River ist das eindrucksvollste Beispiel dieses neuen Baustils.

Brooklyn Bridge

To understand Walt Whitman and Thomas Wolfe one has to stand on the Brooklyn Bridge looking at the skyline to the right and watch the unceasing flow of traffic below.

Um Walt Whitman und Thomas Wolfe zu verstehen, muss man auf der Brooklyn Brücke stehen, die Skyline auf der rechten Seite betrachten und darunter den unaufhörlich vorbeifliessenden Verkehr beobachten.

Kommentar zur Brooklyn Bridge

[Als der Bau der Hängebrücke über den East River, welche Brooklyn mit Manhattan verbindet, 1883 fertig war, galt sie als technisches Wunder. Sowohl die Brooklyn Bridge als auch die Statue of Liberty, die auf einer Insel vor Manhattan 1886 enthüllt wurde, sind Symbole für Amerika als Land der Einwanderung geworden. Während die Freiheitsstatue mehr mit den Augen der Welt ausserhalb Amerikas als hoffnungsvolles Zeichen für die Neue Welt gesehen wurde, nahm die amerikanische Literatur die Brooklyn Bridge als Thema mit vielschichtiger historischer Bedeutung auf. Schon Walt Whitman hatte in der zweiten Ausgabe von Leaves of Grass (1856) mit “Crossing Brooklyn Ferry” Manhattan und den Strom der Menschen besungen, die vor dem Bau der Brücke mit der Fähre den East River überquerten. Hart Crane schrieb das epische Gedicht The Bridge (1930), in welchem eine Synthese der amerikanischen geschichtlichen Erfahrung seit Columbus versucht wird. Thomas Wolfe, der von 1931-35 in Brooklyn wohnte, hat sein Erlebnis der Brücke in dem grossen Roman Of Time and the River (1935) verarbeitet. Arthur Miller schliesslich schrieb mit A View from the Bridge (1955) eine Immigrationstragödie, die zeitlos vom Bogen der Brücke überspannt wird. Bezeichnenderweise beginnt Kafkas Roman Amerika (1912/1927) bei der Einfahrt in den Hafen von New York mit der “Statue der Freiheitsgöttin,” um die “die freien Lüfte wehten.”]

Kommentar zum Strassennetz von Manhattan

[Das “gridiron” (Raster) oder rechtwinklige Netzwerk, nach dem die Strassen von Manhattan angeordnet sind, macht es bekanntlich leicht, sich in New York zu orientieren. Das geht auf die New Yorker Stadtplanung von 1811 zurück, wonach die Avenues der Länge nach und die Querstrassen dazu rechtwinklig und numerisch steigend angeordnet sind. Nur der Broadway schlängelt sich diagonal durch die Halbinsel. Diese rechtwinklige Strassenanordnung steht im auffallenden Gegensatz zu dem Gassenlabyrinth der historisch gewachsenen Städte in Europa.

Dieser Raster hat aber über Manhattan und New York hinaus nationale Bedeutung gewonnen. Das Rechteck wurde geradezu zum Muster für die amerikanische Raumordnung. Die meisten Städte sind danach angelegt, ebenso die “county lines” oder Bezirksgrenzen verlaufen vielfach nach diesem Muster. Auch die Grenzen der Staaten jenseits des Mississippi sind zum Grossteil rechteckig, was ein Blick auf die Landkarte bestätigt. Dieses geradlinig geometrische Muster war praktisch, effizient, leicht überschaubar und kam dem amerikanischen Bedürfnis sehr entgegen.]

[Während des kurzern Aufenthaltes in New York konnte ich mit dem Referenten im Institute of International Education Kontakt aufnehmen, welcher mein Stipendium aus dem William and Tona Shepherd Trust Fund verwaltete. Unmittelbar danach fuhr ich nach Philadelphia weiter.]

Philadelphia, 14. März 1961

The natural friendliness and frankness in this country tend to relieve many of the mental frustrations and tensions that underlie official and unofficial encounters at home.

At a luncheon in the Franklin Inn Club I was reminded of the fact that, already at the time of the American Revolution, Philadelphia was the second largest city in the English speaking world. Only London was larger.

Die natürliche Freundlichkeit und Offenheit in diesem Lande sind dazu angetan, die vielen geistigen Frustrationen und Spannungen zu entlasten, welche dem offiziellen und inoffiziellen Verkehr zu Hause unterliegen.

Bei einem Luncheon im Franklin Inn Club wurde ich an die Tatsache erinnert, dass Philadelphia bereits zur Zeit der Amerikanischen Revolution die zweitgrösste Stadt in der englischsprechenden Welt war. Nur London war grösser.

[Bei meiner Ankunft an der University of Pennsylvania wurde ich mit grosser Freundlichkeit von Professor Robert Spiller empfangen. Robert E. Spiller (1896-1988), Professor of English an der University of Pennsylvania, galt als einer der führenden Gelehrten auf dem Gebiet der amerikanischen Literatur. Er nahm mich in sein Seminar auf und ging mir auch bei der Durchführung meines wissenschaftlichen Projektes zur Epik im amerikanischen Roman beratend an die Hand. Gleich nach meiner Ankunft führte mich Professor Spiller in den Faculty Club ein, was für mich eine neue Einrichtung auf Universitätsboden war. Der Faculty Club bot ein preiswertes Lunch an, hatte einen Leseraum mit bequemen Sitzgelegenheiten, wo sich sofort ein zwangsloses Gespräch mit Kollegen ergab. Es ging mir dabei eine neue Welt einer akademischen Gemeinschaftsform auf, wie sie in Amerika wohl üblich ist, zu jener Zeit aber in Europa noch kaum bestand.

Professor Spiller lud mich auch zum Luncheon im Franklin Inn Club ein. Der Franklin Inn Club, eine der ältesten literarischen Gesellschaften in Amerika, traf sich damals am Rittenhouse Square in Philadelphia. Es war für mich eine aufschlussreiche Einführung in eine gehobene urbane Kultur, wie sie seit der Kolonialzeit in den Städten an der Ostküste von Boston bis Charleston gepflegt wird.]

Philadelphia, 20. März 1961

Old Junk

This country has an incredible amount of old junk and debris just lying around; it is everywhere, on the streets, on sidewalks, in backyards. The country is overloaded with cars that usually end up in a junk yard.

Dieses Land hat eine Unmenge an Abfall und Schutt, der einfach überal herumliegt – auf Strassen, Gehsteigen und in Hinterhöfen. Das Land ist mit Autos überladen, die gewöhnlich auf dem Schrottplatz enden.

Philadelphia, 21. März 1961

Unemployment

Unemployment causes serious problems. Although economists are inclined to see it as a natural fluctuation of the business cycle and thus regard it to some extent as a healthy cleansing of the economic process, it should be avoided for moral and human reasons. It is not so much hunger and want that confront the unemployed in this country but rather a sense of complete hopelessness and futility. They lose their self-respect and sense of personal integrity. The human values that are destroyed by putting someone out of work are the worst loss of all.

Die Arbeitslosigkeit verursacht ernste Probleme. Obwohl Wirtschaftswissenschaftler dazu neigen, sie als natürliche Schwankung im Wirtschaftszyklus zu sehen und sie daher zu einem gewissen Grad als gesunde Reinigung im Wirtschaftsprozess betrachten, sollte sie aus moralischen und menschlichen Gründen vermieden werden. Es sind nich so sehr Hunger und Bedürftigkeit, womit sich die Arbeitslosen in diesem Land konfrontiert sehen, als ein Gefühl der vollkommenen Hoffnungs- und Wertlosigkeit. Sie verlieren ihre Selbstachtung sowie den Sinn für ihre eigene Rechtschaffenheit. Die menschlichen Werte, die zerstört werden, wenn jemand entlassen wird, sind der schlimmste Verlust.

Migration to Northern Cities

It is interesting to note how the percentage of the colored population in Northern cities has increased in the last ten years. New York, Philadelphia, Wilmington, and Baltimore show an increase of almost 3 to 5%, while the rate in the South decreased. In these Northern cities the general impression is that of a completely mixed white and black population.

Es ist aufschlussreich festzustellen, wie der Prozentsatz der farbigen Bevölkerung in den Städten im Norden in den letzten zehn Jahren zugenommen hat. New York, Philadelphia, Wilmington und Baltimore zeigen einen Zuwachs von 3 bis 5%, während die Wachstumsrate im Süden zurückging. Der allgemeine Eindruck in diesen Städten im Norden ist der einer vollkommen gemischt weissen und schwarzen Bevölkerung.

Philadelphia, 27. März 1961

Fire Alarm

There is something curious about Philadelphia that puzzles me: Every hour or so, one hears either a siren of a police car or a fire engine rushing through the streets. At this very moment a house is burning down next to where I live. Most houses here are too old and not properly maintained.

Da ist etwas Eigenartiges in Philadelphia, das mir zu denken gibt: So ungefähr jede Stunde hört man entweder die Sirenen eines Polizeiwagens oder die Feuerwehr durch die Strassen rasen. Gerade jetzt steht ein Haus in Brand in der Nähe, wo ich wohne. Die meisten Häuser sind hier zu alt und nicht richtig in Stand gehalten.


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