Die Streikwelle und ihre Auswirkungen
Um die amerikanischen Verhältnisse richtig einzuschätzen, muss man die grosse Spannweite des Kontinents im Auge behalten. Der heurige Herbst ist durch zahlreiche Streiks gekennzeichnet. So streikten zu Schulbeginn die Lehrer in den Bundesstaaten New York und Michigan. Gleichzeitig traten die teamsters, die Lastkraftwagenfahrer für die Stahllieferungen, zusammen mit der Belegschaft der Ford-Werke in den Ausstand. Was sind die Auswirkungen dieser grossen Streiks? Anscheinend wird die Gesamtwirtschaft davon kaum in Mitleidenschaft gezogen oder die öffentliche Ruhe gestört. Amerika ist offensichtlich gross genug, um Streiks dieses Ausmasses zu verkraften. Durch den Produktionsausfall bei Ford erhoffen sich die anderen Autofirmen grössere Gewinnchancen.
Oktober 1967
Vorzeichen für die kommende Präsidentschaftswahl
Der Vietnamkrieg und die Rassenunruhen in den Grossstädten zeichnen sich bereits jetzt als die dominierenden Themen der kommenden Präsidentschaftswahl 1968 ab. Die Kritik an der Regierung nimmt derart starke Formen an, dass Präsident Johnson es schwer haben wird, den Wahlkampf durchzustehen. Als profilierte Kandidaten der Gegenpartei sind bereits die Gouverneure von New York und Kalifornien, Rockefeller und Reagan, auf den Plan getreten. Nicht mit Unrecht wittert die GOP gewisse Gewinnchancen, obwohl dem amtierenden Präsidenten meistens für eine zweite Amtsperiode das Vertrauen der Wähler gegeben wird.
[Nelson A. Rockefeller (1908-79), Governor of New York, 1959-73; Ronald Reagan (1911- ), Governor of California, 1967-75. GOP (Grand Old Party) ist die Bezeichnung für die Republikanische Partei.]
South Bend, 18. Oktober 1967
Landung auf der Venus
Die weiche Landung einer sowjetischen Sonde auf der Venus hat in den Vereinigten Staaten grösste Bewunderung ausgelöst. Sie wird allgemein als historische Tat gepriesen, was wiederum den technologischen Vorsprung der Sowjetunion in der Raumfahrttechnik unter Beweis stelle. Amerika wird dadurch ohne Zweifel zu weiteren Anstrengungen zur Erforschung des Weltraums angespornt, was der NASA im Hinblick auf die bevorstehenden Budgetkürzungen nicht ungelegen kommt. Aber abgesehen vom Wettlauf um die Beherrschung des Weltraums, bei dem ohnedies nur mehr die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion mitzureden haben, gebietet diese Leistung der sowjetischen Raumfahrt ungeteilte Achtung. Das Wissen um die Venus hat sich sprunghaft vermehrt, sodass der mythenumwobene Planet in einem viel nüchternen Licht als bisher erscheint.
South Bend, 21. Oktober 1967
Antikriegsdemonstrationen
Über dieses Wochenende versammelten sich an die 50.000 junge Menschen, zum Grossteil Studenten an Colleges und Universitäten, in Washington, DC, um an den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg teilzunehmen. Sie marschierten geschlossen auf das Pentagon zu. Die Regierung musste das Militär zum Schutz der Hauptstadt vor Übergriffen einsetzen. Diese Protestbewegung hat wohl Aufsehen erregt, aber das Landesinnere kaum aus der Ruhe gebracht. Hier sind die Leute viel mehr daran interessiert, welches Team im college football gewinnt. Dennoch lässt sich der aufgestaute Unmut über die Kriegsführung in Vietnam, wo derzeit rund 500.000 amerikanische Truppen im Einsatz stehen, nicht mehr übersehen. Präsident Johnson wird bis zur Wahl im nächsten Jahr entscheidende Schritte zur Beendigung des Krieges unternehmen müssen, wenn er weiter im Amt bleiben will.
South Bend, 21. Oktober 1967
Wenig Interesse an Europa
Die Lage in Mitteleuropa kümmert den Durchschnittsamerikaner denkbar wenig. Vor allem fällt auf, dass wenig Interesse an der deutschen Wiedervereingung besteht. Ebenso werden die europäischen Integrationsbemühungen kaum ernst genommen. Man hat sich an den Status quo gewöhnt und darauf eingestellt. Während man das kulturelle Erbe von Europa oder der Alten Welt sehr hoch schätzt, wird von den politischen Ereignissen in Europa kaum Notiz genommen.