Die Bundestagswahlen 1969
Die grosse Überraschung der deutschen Bundestagswahlen vom 28. September 1969 kam nach Abschluss des Wahlganges, als der Spitzenkandidat der SPD Willy Brandt kurz vor Mitternacht in einem Fernsehinterview erklärte, dass er das Amt des Bundeskanzlers antreten werde und bereits die FDP zu Koalitionsverhandlungen eingeladen habe. Dies schien zunächst unglaubwürdig, da die Unionsparteien bereits ihren Wahlsieg feierten und Kurt Georg Kiesinger im Kanzleramt bestätigt sahen. Erst in den darauffolgenden Tagen wurde der Wahlsieg von Willy Brandt zur unumstösslichen Gewissheit. Die SPD machte den Freien Demokraten, obwohl sie eine empfindliche Wahlniederlage hinnehmen mussten, weitreichende Zugeständnisse zur Regierungsbildung.
Mit der neuen Regierung Brandt ist eine Wende in der deutschen Aussenpolitik zu erwarten. Die deutsche Ostpolitik dürfte in Fluss geraten, womit jene Lebensfragen der Deutschen aufgegriffen werden, die auch für die Friedenssicherung in Mitteleuropa von Bedeutung sind. Es geht um die Anerkennung der Oder-Neisse-Linie als Grenze zu Polen und um die mögliche Anerkennung der DDR als zweiten deutschen Staat.
Die Wahlergebnisse vom 28. September 1969
Von den isgesamt 38.658.363 wahlberechtigten Stimmen wurden bei starker Wahlbeteiligung 32.733.431 Stimmen abgegeben. Davon fielen die Vergleichszahlen zur Wahl von 1965 werden in Klammern angegeben auf die CDU/CSU 46.1% (47.6%) mit 242 (245) Mandaten; SPD 42% (39.3%) mit 224 (202) Mandaten; und auf die FDP 5.8% (9.5%) mit 30 (49) Mandaten.
Der Stimmengewinn der SPD, verbunden mit dem Mandatzuwachs, ermöglichte es Willy Brandt mit der FDP in eine kleine Koalition einzugehen und die Regierung zu bilden.
In Europa setzt sich immer mehr ein sozial-liberaler Trend durch, während in den USA der Liberalismus nach dreissig Jahren von einer konservativen Regierung abgelöst wurde.
[Willy Brandt (1913-92), Journalist und Politiker, lebte von 1933-45 im Exil in Norwegen und Schweden; Bürgermeister von Berlin, 1957-66; Vizekanzler und Aussenminister im Kabinett Kiesinger, 1966-69; Bundeskanzler, 1969-74; erhielt 1971 den Nobel Friedenspreis. Willy Brandt starb am 8. Oktober 1992 im Alter von 79 Jahren.]
Innsbruck, 25. Oktober 1969
Die DM-Aufwertung
Obwohl die Aufwertung der DM um 8.5% eine durchaus notwendige und verständliche Massnahme war, hat sie doch wiederum einen Faktor der Unsicherheit in das europäische Währungssystem gebracht. Inwieweit werden die anderen Währungen gezwungen sein, mitzuziehen? Wie hoch werden die Preise gerade in Österreich steigen, das vielfach auf Importe aus der BRD angewiesen bleibt? Es ist zu bedauern, dass währungspolitische Massnahmen in Europa immer noch einseitig, ohne gegenseitige Absprachen, durchgeführt werden. Die Bemühungen um die europäische Integration werden dadurch wieder zurückgeworfen, wie überhaupt in den wesentlichen Fragen der wirtschaftlichen und politischen Kooperation eher eine rückläufige Tendenz zu verzeichnen ist.