Die Schizophrenie der geteilten Stadt
Was nach aussenhin verschwiegen wird, kann den Besucher von Berlin nicht über die absurde Lebenssituation hinwegtäuschen. Da in den letzten Jahren keine Änderung im Status von Berlin eingetreten ist, haben sich die Absurditäten nur noch vermehrt und einander überboten. Neben den Stahl- und Glaskonstruktionen moderner Architektur ragen immer noch gespenstisch die Ruinen ausgebrannter Häuser aus den vom Unkraut überwucherten Bombentrichtern hervor. Bis der ganze Schutt aus dem 2. Weltkrieg aufgeräumt sein wird, werden noch Jahrzehnte vergehen. West-Berlin, das faktisch nur auf dem Luftweg erreichbar ist, liegt als Enklave tief im Gebiet der DDR.
West-Berlin wird als Schaufenster des Westens für den Osten und als künftige Hauptstadt eines vereinten Deutschlands aufgebaut, obwohl keine Anzeichen für eine mögliche Vereinigung gegeben sind. Als Schaufenster des Westens wirkt West-Berlin nicht überzeugend. Der aufgezwungene Modernismus jeglicher Provenienz gibt eher ein falsches Bild vom Westen. Neben dem zur Schau gestellten Reichtum trifft man auf Schritt und Tritt Armut, Elend und apathische Hoffnungslosigkeit. Obwohl West-Berlin ein Muster des freien Westens sein sollte, ist es zur ärgsten Brutstätte linksradikaler Anarchie geworden. Es ist kein Wunder, dass hier das absurde Theater blüht.
Die nationale Schizophrenie äussert sich auch darin, West-Berlin als Hauptstadt erstehen zu lassen. Auf beiden Seiten der geteilten Stadt werden hartnäckige Trotzakte gesetzt, welche die Teilung eher vertiefen als überwinden. Verbindungen über die Mauer sind so gut wie nicht existent. Es wäre leichter, von hier aus mit San Francisco zu telephonieren als eine Verbindung über die Mauer nach Ost-Berlin herzustellen. Die kulturellen Institutionen werden schrittweise verdoppelt. Der Humboldt Universität im Osten steht die Freie Universität Berlin im Westen gegenüber. Neben der Deutschen Staatsoper Unter den Linden wurde im Westen die Deutsche Oper gebaut. Das alte Reichstagsgebäude in West-Berlin wird für das künftige deutsche Parlament restauriert. Provokant steht das riesige Verlags- und Bürohaus des Springer Zeitungskonzerns knapp an der Mauer. Die Aussichtsterrasse im obersten Stock des Springer-Hauses bietet den besten Rundblick über Ost-Berlin. Das kommunistische Regime hat dagegen auf dem Alexanderplatz einen hohen Fernseh- und Aussichtsturm gebaut, der den Blick über die Stadt nach dem Westen öffnet.
Trotz aller Not und politischer Misere bleibt Berlin eine faszinierende Stadt. Wer möchte schon versäumen, den Kurfürstendamm entlang zu schlendern und im Kranzler einen Kaffee mit Streuselkuchen zu geniessen? In der Deutschen Oper konnten meine Frau und ich eine glanzvolle Aufführung von Richard Strauss' Salome erleben.
Wäre die politische Situation nicht so todernst, könnte man die bereits vom Rost befallene Mauer als ein Relikt der Vergangenheit betrachten. Man wird eine gewisse Beklemmung und ein angstvolles Schaudern erst los sein, wenn man wieder im anderen Teil der Welt landet. Berlin muss man gesehen haben, um die abgrundtiefe Kluft zu begreifen, welche das eine Deutschland vom anderen trennt. Bewundernswert ist die Geduld und der Mut der Menschen, die trotz aller Widerwärtigkeiten in der eingeschlossenen Stadt ausharren.