Kilchberg bei Zürich, [Mitte Juli] 1970
Am Grab von Thomas Mann
Das schlichte Grab von Thomas Mann (1875-1955) steht auf dem Friedhof der Kirche von Kilchberg in beschaulich ländlicher Ruhe mit dem Blick über den Zürichsee. Nichts deutet darauf hin, dass hier der bedeutendste Romanschriftsteller der deutschen Sprache seine letzte Ruhestätte gefunden hat.
In der Villa Thomas Mann in Kilchberg lebt noch die betagte Witwe des Autors, Katja Mann, die auch den Nachlass ihres Mannes verwaltet. Eine Thomas Mann Forschungsbibliothek wurde im Conrad Ferdinand Meyer Haus an der Technischen Hochschule in Zürich eingerichtet.
Vevey am Genfersee, [Mitte Juli] 1970
Die Schweiz: Allgemeine Reiseeindrücke
Es ist immer ein Vergnügen, durch die Schweiz zu reisen: Die prachtvolle Landschaft, gepflegte Atmosphäre und die weltbekannte Hotellerie heben das Wohlbefinden. Aber in der Schweiz ist auch vieles überholt. Hier wird der Lebensstil des 19. Jahrhunderts noch mit einer Sorgfalt gepflegt wie kaum noch woanders in Europa. Von den Hotelpalästen, die einst Prestigesymbole des Grossbürgertums gewesen sind, bleibt vielfach nur mehr die frischgeputzte Fassade über, sonst stehen sie leer. Ein so weltbekannter Kurort wie Vevey am Genfersee hat weitgehend seine Bedeutung verloren. Die Landschaft um den Genfersee ist von überwältigender Schönheit, aber der See selbst leidet an Umweltverschmutzung. Das berühmte Hotel Des Trois Couronnes in Vevey, das Henry James im ersten Teil von Daisy Miller (1870) als Schauplatz der Handlung verwendet, und das einst der Treffpunkt der internationalen Hautevolee gewesen ist, lebt mehr vom vergangenen Glanz.
Innere Spannungen sind auch in der Schweiz nicht mehr wegzuleugnen. Sie sind aus dem Bedürfnis entstanden, Anschluss an das moderne Leben und den europäischen Einigungsprozess zu finden. Es ist fraglich, ob die Schweiz auf die Dauer ihre Distanz zum Weltgeschehen aufrecht erhalten kann.
Ravenna, [Ende Juli] 1970
Zweimal 800 Jahre: Dante und T.S. Eliot
Als Dante Alighieri 1320, kurz vor seinem Tod, im Kloster der Franziskaner von Ravenna Zuflucht suchte, war die im 6. Jahrhundert erbaute Basilica bereits 800 Jahre alt. Dort steht auch das 1780 errichtete Grabmal Dantes.
Im heurigen Sommer wird aus Anlass des 800. Todestages von Thomas Becket, der als Erzbischof 1170 in der Kathedrale von Canterbury ermordet wurde, T.S. Eliots Murder in the Cathedral (1935) in der italienischen Übertragung als Assassino nella Cattedrale auf dem Platz vor dieser Basilica aufgeführt. Die Aufführung von Eliots geistlichem Drama vor dem ehrwürdigen historischen Hintergrund macht einen so geschlossenen und homogenen Eindruck, dass das tragische Geschehen des weitentrückten mittelalterlichen Canterbury in der alten Bischofsstadt Ravenna glaubhaft nacherlebt werden kann. Die Übertragung der englischen Verse ins Italienische tut dem Gesamteindruck keinen Abbruch. Die Sprache ist nur mittelbar. Was zählt, ist das einheitliche geistige Erlebnis, das Dante und Eliot an diesem besonderen Platz verbindet. So tief und geschlossen ist doch im Grunde der kulturelle Raum Europas.