University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


Innsbruck, [Anfang Juli] 1971

Die Aufnahme Grossbritanniens in die EWG

Das wesentliche Ereignis in der europäischen Politik war in der ersten Jahreshälfte ohne Zweifel die Einigung in der EWG über die Aufnahme Grossbritanniens in die Sechser-Gemeinschaft. Da nun die Signale auf grün gestellt wurden, muss Grossbritannien selbst über den eigenen Schatten springen, jahrhundertelange Vorbehalte gegen das Festland abbauen und den Weg zu Europa finden.

Mit dem Beitritt Grossbritanniens zur EWG zeichnen sich für Europa neue Möglichkeiten ab. Es könnte ein gemeinsamer Markt von 286 Millionen Menschen entstehen, der bald alle europäischen Staaten in seinen Sog ziehen und auch die politische Einigung unausbleiblich herbeiführen wird. Die Abstimmung im Unterhaus im Oktober über den Beitritt Grossbritanniens zur EWG ist daher von historischer Bedeutung. Ein geeintes Europa mit Grossbritannien könnte zur dritten Kraft zwischen den beiden Supermächten werden.

Innsbruck, [Mitte Juli] 1971

Das Misstrauen gegen Amerika

In der europäischen Gesellschaft aller Schichten ist noch ein tiefes Misstrauen gegen Amerika verwurzelt. Der Arzt traut seinem amerikanischen Kollegen nicht zu, dass er eine richtige Diagnose stellt. Der Zahnarzt hat Bedenken, ob man in Amerika eine gute Prothese einsetzen kann. Nach Ansicht der Pädagogen sind die amerikanischen Schulen insgesamt nichts wert. Der Bankangestellte kann nicht genug davor warnen, dass in Amerika das Geld an Wert verliert. Der Gastwirt bezweifelt, ob man in Amerika Speisen mit Geschmack zubereiten kann. Allgemein herrscht die Auffassung vor, dass man auf den Strassen von Chicago nicht gehen kann, ohne Gefahr zu laufen, dass man überfallen wird. Kultur haben die Amerikaner überhaupt keine. Die Liste des Misstrauens liesse sich beliebig fortführen. Trotz des verstärkten transatlantischen Reiseverkehrs ist diesen vorgefassten Meinungen schwer beizukommen.

Innsbruck, 17. Juli 1971

Die zwei beachtenswertesten künstlerischen Ereignisse, die meine Frau und ich in den vergangenen zwei Jahren miterleben konnten, waren die Aufführungen von Richard Strauss' Salome in der Deutschen Oper Berlin und von Mozarts Don Giovanni unter Herbert von Karajan bei den Salzburger Festspielen.

[Meine Familie und ich reisten am 18. Juli von Innsbruck ab. Wir fuhren mit einem Leihwagen über Strassburg, Nancy, Reims, Paris, Chartres, Rouen nach Le Havre, wo wir uns auf der France einschifften. Diese Reise durch Deutschland und Frankreich war im Bewusstsein der bevorstehenden Emigration nach Amerika ein besonderes Erlebnis.]

Le Havre, 23. Juli 1971

Reiseeindrücke

Eine Reise quer durch Deutschland und Nordfrankreich zeigt immer noch die verheerenden Zerstörungen der beiden Weltkriege. Hunderte Kilometer im Umkreis von Verdun sind die Spuren des erbitterten Kampfgeschehens des Ersten wie des Zweiten Weltkrieges noch deutlich sichtbar: Zahllose Soldatenfriedhöfe, in denen nur ein Bruchteil der rund eine Million Gefallener aller Nationen ruht; weithin zerstörte Landstriche, wo sich die Vegetation und der Waldbestand noch nicht erholen konnten; ausgebombte Städte, niedergebrannte Kirchen, verlassene Häuser mit Granateinschlägen säumen den Weg. Erschreckend wird der Verlust an Menschen, Kulturlandschaft sowie unwiederbringlichen Kulturgütern sichtbar. Die Wunden, welche zwei Weltkriege aufgerissen haben, sind noch nicht vernarbt.

Die französische Provinz macht einen trostlosen, daniederliegenden Eindruck. Trotz des agrarischen Reichtums des Landes sind die kleinen Provinzstädte und Landgemeinden verarmt. Sie scheinen eine Depressionsphase durchzumachen, die ganze Regionen zu Notstandsgebieten stempelt. Erstaunlich ist auch zu beobachten, wie wenig der Tourismus ausserhalb von Paris durchgedrungen ist. Frankreich leidet an schweren Strukturproblemen, welche die Landwirtschaft, das Erziehungswesen und den Kleinhandel betreffen.

Allgemein lässt sich feststellen, dass eine gemeinsame Raumplanung für Europa am vordringlichsten wäre. Diese ist aber bisher überhaupt nicht in Erscheinung getreten. Es wird immer noch nach nationalen Konzepten gearbeitet. Während die Nord-Südverbindung von Hamburg bis Neapel durch ein modernes Autobahnnetz erschlossen ist, fehlt die Ost-Westverbindung. Es mutet fast unglaubwürdig an, dass es von Strassburg nach Paris keine Autobahn gibt, noch eine solche geplant ist.

Inseln der Schönheit

Trotz aller Mängel, welche Europa in den Landgebieten und Industriezonen aufweisen mag, gibt es Inseln von überraschender, bezaubernder Schönheit. Dazu gehören die Landschaft der Alpen, die Pracht alter Schlösser und Residenzen wie das Belvedere in Wien und Fontainebleau bei Paris, die erhabene Baukunst von Kathedralen wie das Strassburger Münster und Chartres, die malerische Idylle von Barbizon und vieles mehr. Um den kulturellen Reichtum Europas zu sehen, wird sich die transatlantische Pilgerschaft im Sinne von Henry James immer lohnen.

[Die France verliess Le Havre in den späten Nachmittagsstunden des 23. Juli und landete nach einer ruhigen, fünftägigen Fahrt über den Atlantik am Hudson River Pier von New York. Es war die letzte Atlantiküberquerung dieses eleganten Passagierschiffes. Auch für uns war dies die letzte Fahrt über den Atlantik mit dem Schiff.]


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