University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


South Bend, 1. Oktober 1971

In Memoriam John A. Hawgood (1905-1971)

Zum letztenmal traf ich mit Professor John Hawgood im April dieses Jahres im Grünwalderhof in Patsch bei Innsbruck zusammen. Wie immer war er voller Pläne. Er bereitete gerade die Her-ausgabe eines deutschen Reiseberichts in englischer Übersetzung für die Lakeside Press der R.R. Donnelley and Sons Company in Chicago vor. Dieser Reisebericht beschreibt die Eröffnung der Northern Pacific Railroad, welche 1883 die Verbindung von Minneapolis nach Portland, Oregon, herstellte. John wollte mich unbedingt zur Mitarbeit an diesem Werk bewegen. Ich sagte schiess-lich zu, dass ich mich um die Auffindung des deutschen Quellenmaterials bemühen werde. John Hawgood arbeitete zur gleichen Zeit an einer Geschichte von San Francisco, wofür seine profunde Kenntnis von Kalifornien die beste Voraussetzung geboten hätte. Weiters waren einige Artikel geplant, darunter die Bearbeitung der Berichte der amerikanischen Gesandten am Wiener Hof im 19. Jahrhundert. Wir hatten noch vereinbart, dass wir uns im Oktober in der Newberry Library in Chicago treffen. Gestern rief mich der Verleger der Lakeside Press an und teilte mir mit, dass John Hawgood am 16. September in Santa Barbara, Kalifornien, einem Herzschlag erlegen ist. Er stand im 65. Lebensjahr. John Hawgood war Professor für amerikanische Geschichte an der University of Birmingham in England. Er war als Historiker in Oxford, Hei-delberg und Wien ausgebildet worden, hatte sich aber frühzeitig der Erforschung des amerikani-schen Westens zugewandt. Ich hatte Hawgood an der Huntington Library im Sommer 1961 kennengelernt und in den folgenden Jahren einen fruchtbaren Erfahrungsaustausch mit ihm gepflegt. Er hatte in seinem Leben an die vierzigmal den Atlantik überquert. John Hawgood galt mir als Vorbild des weltaufgeschlossenen Gelehrten, der auf beiden Seiten des Atlantiks zu Hause ist.

Nachtrag

[Die Herausgabe des Reiseberichts über die Eröffnung der Northern Pacific Railroad wurde von Ray Allen Billington, Professor of History an der Northwestern University und Senior Research Associate an der Huntington Library in San Marino, Kalifornien, weitergeführt. Der ursprüng-liche Text von Nicolaus Mohr (1826-1886), Ein Streifzug durch den Nordwesten Amerikas. Festfahrt zur Northern Pacific-Bahn im Herbste 1883 (Berlin, 1884) erschien in der Lakeside Classics Series als Excursion Through America (Chicago: R.R. Donnelley, 1973). Ich habe dazu den Epilog, “Nicolaus Mohr as a Foreign Observer of the United States” (pp. 353-68) verfasst.]

South Bend, 16. Oktober 1971

Die Umstellung

Wer nach Amerika emigriert, wird eine fühlbare psychologische Umstellung erfahren. Alles ist zunächst fremd und grundverschieden. Schon nach ein paar Monaten verblassen die vertrautesten Erinnerungen an die alte Heimat. Was einem allmählich aus dem Gedächtnis entschwindet, sind der Klang alter Musikinstrumente, das Relief über dem Portal einer gotischen Kathedrale sowie der satte Farbton der Alpen. Insbesondere aber geht die Sicherheit im Gebrauch der Muttersprache verloren. Im Gespräch mit älteren Bekannten, die bereits Jahrzehnte im Lande wohnen, fiel mir ein eigenartiges sprachliches Dilemma auf. Während ihre Muttersprache holprig geworden ist, haben sie das Englische nie richtig erlernt. Viele Einwanderer bewegen sich aus diesem Grunde in einem linguistischen Niemandsland. Es ist nicht leicht, die Zwei-sprachigkeit zu erhalten. Während die zweite Generation englischsprachig aufwächst, wird die Sprache aus dem Herkunftsland der Eltern vergessen. Die Sprache der Eltern oder Grosseltern wird dann meistens in der Schule im Fremdsprachenunterricht wieder aufgegriffen. Amerika erweist Fremden gegenüber eine grosse Sprachtoleranz. In den Schulen hingegen wird ein strenger Purismus im Englischunterricht bewahrt. Schon nach kurzem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten entrückt die europäische Lebensweise, die einem im Verlaufe der Zeit unwirklich erscheint. Zurück bleibt die Verklärung der alten Heimat, die zum Illusionsbild wird.

Das Gefühl der Gelassenheit

In Amerika macht sich ein Gefühl der Gelassenheit breit, wie man es in Europa nicht kennt. Nichts scheint mehr so ausserordentlich wichtig oder bedrängend. Es gibt keine Furcht mehr vor einem plötzlichen politischen Umsturz, dem Eingriff des Staates in die Privatsphäre oder dem Ausbruch eines Krieges. Die Weltprobleme verlieren ihre beängstigende Unmittelbarkeit. Man kann ruhig über Berlin, Prag oder Ost-Pakistan sprechen, ohne sich dabei wesentlich zu erregen. Selbst das Problem der Dollarabwertung beschäftigt den einzelnen Amerikaner, wenn er sich nicht gerade im Ausland befindet, kaum. Es gibt wenig Ereignisse, welche den normalen Lauf des amerikanischen Alltags aufrütteln, beziehungsweise aus dem Gleichgewicht bringen könnten. Wenn man aus Europa hierherkommt, spürt man allmählich selbst diesen Gleichmut und die damit verbunden ausgewogene Ruhe.

South Bend, 17. Oktober 1971

Die Stärke des Mittelstandes

Was immer die übrige Welt an Extravagantem über Amerika erfährt, sollte eines nicht übersehen werden, dass der amerikanische Mittelstand die Dinge im Lot behält. Diese breite “middle class” lebt in den Vorstädten, führt ein normales Familienleben, geht am Sonntag in die Kirche und sorgt sich um die Erziehung der Kinder. Dieses Amerika ist gesund und wird allen Anfechtungen zum Trotz die Zeiten überdauern.

Der Terror auf der Strasse

Hingegen soll nicht übersehen werden, dass auf den Strassen der Innenstädte der blanke Terror herrscht. Hier ist die Kriminalität ärger, sind die Opfer brutaler Gewalt häufiger, als man wahrhaben möchte.

South Bend, 18. Oktober 1971

Die kulturelle Isolation

Wenn die Vereinigten Staaten wie zur Zeit eine Phase der Isolation auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet durchmachen, wirkt sich das auch auf das kulturelle Leben aus. Plötzlich sind Spitzenkräfte aus Übersee auf der Bühne, im Konzertsaal und in der Oper nicht mehr zu sehen und zu hören. Es fehlen auch bekannte Namen auf den Gastvortragslisten der Universitäten und Colleges. Besonders auffallend ist der Rückgang im Kulturaustausch mit Europa. Es lässt sich eine gewisse geistige Dürre und kulturelle Dürftigkeit nicht leugnen. Das geistige und kulturelle Leben läuft Gefahr zu verflachen und in den Provinzialismus zurück-zufallen.

South Bend, 25. Oktober 1971

Die Abstimmung über China

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat heute über China abgestimmt. Der Vorschlag Albaniens zur Aufnahme der Volksrepublik als alleinige Vertreterin des chinesischen Volkes wurde mit 76 gegen 35 Stimmen bei 17 Stimmenthaltungen angenommen. Dagegen wurde der Vorschlag von US-Botschafter George Bush für eine Zweidrittelmehrheit abgelehnt. Damit war die amerikanische Zwei-China Politik durchgefallen. Nach der Wahl verliessen die Vertreter von Nationalchina die Weltorganisation.

Der Jubel in der Generalversammlung über den Sieg in der China Frage steigerte sich zum Pandämonium. Solche Szenen hat es am East River bisher noch nie gegeben. In dem Freudentanz der marxistischen afro-asiatischen und euro-kommunistischen Länder war kaum zu unterscheiden, was mehr wog, die Aufnahme der Volksrepublik China in die Vereinten Nationen oder die Schadenfreude darüber, dass es gelungen war, den USA eins auszuwischen. Der niedergeschlagenste und einsamste Mann in der Generalversammlung war Botschafter George Bush. Die offensichtliche Missfallenskundgebung gegen die USA bei den Vereinten Nationen hat die amerikanische Öffentlichkeit schockiert. Sie wird den Trend zum Isolationismus weiter verstärken. Aber ganz ungelegen kommt die Entscheidung der UNO für die Nixon Regierung wiederum nicht, denn sie öffnet den Weg für eine reale China Politik und entlastet Präsident Nixon vor seiner bevorstehehenden Reise nach Peking einer schweren Hypothek.

[Der spätere amerikanische Präsident George Herbert Walker Bush war 1971-73 US-Botschafter bei den Vereinten Nationen; er leitete 1974-75 die amerikanische diplomatische Vertretung in Peking. Für weitere biographische Daten siehe unten Aufzeichnung vom 20. Jänner 1989.]

South Bend, 28. Oktober 1971

Grossbritannien in die EWG

Fast zehn Jahre auf den Tag seit dem Veto von Charles de Gaulle 1961 stimmte das britische Parlament für den Beitritt Grossbritanniens zur EWG. Die konservative Regierung von Prime Minister Edward Heath gewann die Europadebatte im Unterhaus mit 356 gegen 244 Stimmen, wobei ein beachtlicher Teil der Labor Opposition für die Europa Vorlage stimmte. Dies ist ein grosser Tag für Europa, denn die europäische Einigung ist damit um einen gewaltigen Schritt weitergekommen.


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