University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


South Bend, 8. Oktober 1972

Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten

Die allgemeine Vorstellung von Amerika als dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten hat Millionen von Menschen bewogen, hier ihr Glück zu versuchen. Unbegrenzt sind die Möglichkeiten in Amerika gewiss nicht. Viele haben Schiffbruch erlitten, für die sich der amerikanische Traum nicht erfüllte. Aber Millionen von Menschen, die nur mit dem Gewand am Leibe ins Land kamen, konnten Gewerbebetriebe eröffnen, Firmen gründen, sich vielfach betätigen und zu Wohlstand und Ansehen gelangen. Wenn auch spektakuläre Aufstiege nur mehr selten vorkommen, so bleibt Amerika doch das Land vieler Möglichkeiten, in dem durch Unternehmungsgeist und Fleiss Erfolge erzielt werden können, wie sonst nirgendwo in der Welt.

South Bend, [Afang Oktober] 1972

Nobelpreis für Literatur 1972

Der Nobelpreis für Literatur 1972 wurde an Heinrich Böll verliehen. Damit ging der Nobelpreis zum erstenmal an einen Vertreter der deutschen Nachkriegsliteratur. Das heutige Köln und seine Umgebung haben dadurch als Literaturlandschaft weltweite Bedeutung gewonnen.

South Bend, [Mitte Oktober] 1972

Grass-roots Politics

Es ist erstaunlich zu sehen, mit welcher Nonchalance, ohne Aufwand oder Prätention ein bekannter Congressman in einer Bibliothek oder Schule zu einer kleinen Wählerversammlung spricht, jedem die Hand schüttelt und sich erkundigt, wo der Schuh drückt. Das ist echte “grass-roots politics,” wobei der Kandidat einer Partei an die Basis, die Graswurzel des demokratischen Wahlvorganges geht. So machte John Brademas, der schon mehrmals wiedergewählte demokra-tische Representative vom hiesigen 3. Bezirk in Indiana, kein Aufhebens daraus, dass er als “Mr. Education” im Kongress über die Vergabe von Milliardenbeträgen im Erziehungsbereich bestimmt. Brademas mischte sich ungezwungen unter die Leute, schlürfte seine Tasse Kaffee, warb natürlich um Stimmen für seine Partei, verzichtete dabei aber auf jede Entourage, jeden Titel oder sonstige Zeichen politischer Macht. An dieses ursprüngliche Demokratiegefühl muss man sich, wenn man neu im Lande ist, erst gewöhnen.

South Bend, 26. Oktober 1972

Ende des Vietnamkrieges

Heute wurde über das nationale Fernsehen von Dr. Henry Kissinger zum erstenmal offiziell bestätigt, dass die Vietnam Friedensverhandlungen in Paris zu einem positiven Ergebnis geführt haben. Das Endes des Krieges in Vietnam, der längsten und blutigsten Auseinandersetzung seit 1945, ist damit in greifbare Nähe gerückt.

[Henry Kissinger setzt in dem Kapitel “From Stalemate to Breakthrough” (White House Years, pp. 1301-59) klar auseinander, wie es zum Durchbruch in den ins Stocken geratenen Verhand-lungen in Paris kam. In der Verhandlungsrunde vom 8. Oktober 1972 hatte der Vertreter von Nordvietnam Le Duc Tho nach jahrelanger Verzögerung die amerikanischen Vorschläge angenomen. Diese bezogen sich im Wesentlichen auf folgende drei Punkte: (1) Waffenstillstand; (2) Freilassung der Gefangenen; und (3) Abzug der amerikanischen Truppen aus Vietnam. Die politische Lösung für Südvietnam blieb, was später zum Verhängnis für Saigon wurde, ungeklärt offen.]

29. Oktober 1972

Der Friede kommt auf leisen Sohlen

Der Friede in Vietnam kommt auf liesen Sohlen. Der Krieg hatte sich zehn Jahre lang dahingezogen, sich zu einem endlosen Dschungelkrieg ausgedehnt und ist schliesslich in einem militärischen Patt lautlos versickert. Es gibt keine Sieger und keine Besiegten, keinen Triumphzug und keine Kapitulation. Das Ende des Krieges ist ein Kompromiss, bei dem beide Seiten einen Teil ihrer früheren Forderungen aufgegeben haben.

Was ist die Bilanz dieses furchtbaren Krieges?

Süd- und Nordvietnam haben in diesem Bürgerkrieg einen hohen Blutzoll gezahlt und grossen Schaden erlitten. Schätzungsweise mussten eineinhalb Millionen Menschen ihr Leben lassen, ganze Landstriche wurden zerstört, und noch ärger ist die barbarische Verrohung, die dieser Krieg mit sich brachte. Auch den Vereinigten Staaten blieben für diesen fernen Krieg grosse Opfer nicht erspart. An die 45.000 amerikanische Soldaten sind gefallen, und dazu kommen noch einige Hunderttausend Verwundete und Kriegsversehrte. Die Bevölkerung wurde durch diesen Krieg geteilt wie selten zuvor in der amerikanischen Geschichte. Die Wunden, die dieser Krieg aufgerissen hat, belasten eine ganze Generation.


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