Rockefeller im Vorübergehen
Plötzlich stand ich vor Rockefeller, nicht Nelson Rockefeller, dem Gouverneur von New York, sondern dessen Bruder David, dem Chairman of the Board, Vorstandsvorsitzenden der Chase Manhattan Bank. Die unerwartete Begegnung ergab sich im Faculty Club der University of Notre Dame, wo ich gerade mit einem Fakultätsausschuss dinner hatte. David Rockefeller war nach Notre Dame gekommen, um einen Vortag über den Handel mit Russland und China zu halten. Der Präsident der Universität, Father Hesburgh, führte den Gast zwangslos durch den Faculty Club. Nach einer kurzen Vorstellung und ein paar freundlichen Worten kam mir erst zum Bewusstsein, dass ich mit einem der einflussreichsten Finanzleute der Welt gesprochen hatte. Überraschend war für mich, mit welcher Ungezwungenheit und Nonchalance eine solche Begegnung in Amerika möglich ist. Auch die natürliche menschliche Art, mit der sich David Rockefeller ohne Affektion, kühle Distanz oder erzwungene Freundlichkeit im Kreise des Lehrkörpers bewegte, war erstaunlich. So wurde mir die amerikanische Legende, die sich unweigerlich mit dem Namen Rockefeller verbindet, auf menschlich sympathische Weise nähergebracht. Nicht dass Amerika eine klassenlose Gesellschaft wäre, aber die gesellschaftlichen Schranken werden auf das wohltuendste durch einen humanen Zug durchbrochen.
South Bend, 15. März 1974
Das Ende der Einbahnstrasse
In einer Rede vor dem Executives' Club in Chicago erklärte Präsident Nixon, the days of the one-way street are over (die Tage der Einbahnstrasse sind vorbei). Die Warnung war an die neun EWG Länder gerichtet. Europa könne nicht den Schutz der Vereinigten Staaten vor einer militärischen Bedrohung in Anspruch nehmen und andererseits die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den USA verweigern. Amerika werde seine Verteidigungs- und Wirtschaftsprobleme im Alleingang lösen, wenn die europäischen Länder sich nicht zur transatlantischen Solidarität und Konzilianz bereit finden können. Solch scharfe Worte der Kritik sind bisher von Präsident Nixon noch nie zu hören gewesen. Sie waren wohl übers Ziel geschossen, zeigten aber dennoch eine latente Spannung im Nordatlantischen Bündnis auf. Die Worte Nixons waren schockierend, sie trafen Europa wie eine kalte Dusche. Die Reaktion darauf war dementsprechend heftig. Sie wurden teils als eine Erpressung angesehen, teils auch als Manöver verstanden, von den innerpolitischen Schwierigkeiten abzulenken. Es war nicht ganz zu verstehen, worauf Nixon hinaus wollte. Sollte damit ein neuer Handelskrieg zwischen Amerika und Europa angekündigt werden, oder zieht sich Amerika in einen neuen Isolationismus zurück?
South Bend, 17. März 1974
Wild Irish Rose
Am 17. März feiert ganz Amerika mit den Iren St. Patrick's Day. Es werden überall shamrocks, Kleeblätter als Wahrzeichen Irlands aufgesteckt, Paraden abgehalten und grünes Bier ausgeschenkt. In Chicago wird sogar der Chicago River grün gefärbt. Und wenn dann das Lied Wild Irish Rose erklingt, wird so manches Auge feucht. Die Sehnsucht der Iren nach der Alten Heimat überträgt sich auf die vielen Amerikaner europäischer Herkunft. Auf diese Weise ist der Tag des Schutzpatrons von Irland zum allgemeinen Feiertag in Amerika geworden.
South Bend, 19. März 1974
Verzweifelte Versuche
Präsident Nixon hat sich in einer Woche nun schon zum drittenmal den Reportern und der Fernsehkamera gestellt. Das waren verzweifelte Versuche, die öffentliche Meinung wieder für sich zu gewinnen. Die Fragen der Reporter sprangen abwechselnd von der Krise im Mittleren Osten, Europa zu Watergate über. In der heutigen Übertragung aus Houston, Texas, war der Ton Europa gegenüber viel sanfter. Nixon betonte, dass die Freundschaft mit Europa nie in Frage gestellt wurde, und dass er für das Nordatlantische Bündnis eintrete. In Bezug auf Watergate haben sich in der amerikanischen Öffenltichkeit zwei Lager gebildet: das eine stimmt dem Präsidenten zu, dass über Watergate genug gesprochen worden sei, während das andere es kaum erwarten kann, bis Nixon entweder zurücktrete oder vom Amt enthoben werde.
South Bend, 29. März 1974
Im Exil
In einer ergreifenden Szene des Wiedersehens wurde Alexander Solzhenitsyn am Zürcher Flughafen Kloten mit seiner Frau Natalya und seinen Kindern zusammengeführt. Die Wiedersehensfreude wurde aber durch das aufgezwungene Schicksal des Exils und das Bewusstsein getrübt, nie wieder in die Heimat zurückkehren zu können.
Im Ausland zu leben mit der Möglichkeit, jederzeit in die Heimat zurückkehren zu können, ist halb so schlimm, es kann unter Umständen sogar anregend wirken. Aber im freien Westen, insbesondere in den Vereinigten Staaten leben Hunderttausende von Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten mussten aus China, Nordvietnam, Nordkorea, Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, sowie aus den anderen Ostblockstaaten ohne Hoffnung auf Rückkehr. Und das ist schlimm.