Eine konforme Weltzivilisation
Wenn man vom John F. Kennedy International Airport in New York abfliegt und dann nach sieben Stunden auf dem neuen, supermodernen Charles de Gaulle Flughafen in Paris landet, merkt man kaum einen Unterschied. Der Charles de Gaulle Flughafen gleicht dem JFK in der Ausstattung und in der Raumanordnung, nur das weitverzweigte System an Rolltreppen und Laufbändern übertrifft den letzteren. An den Flughäfen ist rund um die Welt eine übernationale, vom amerikanischen Vorbild und Komfort geprägte kosmopolitische Lebensatmosphäre entstanden. Dieser höchst uniform gewordene Reisekomfort des jet set ist in der Bedienung der Reisenden und den gleichen Hotelketten im Flughafenbereich anzutreffen. Die Anzeichen einer immer gleichförmiger werdenden Weltzivilisation sind auch in den grossen Museen, in den Konzertsälen und Opernhäusern der Weltstädte zu sehen. Die gleichen Solisten, Sängerinnen und Sänger sind in London, Mailand, Wien, Berlin, New York, Chicago, San Francisco und Sidney zu hören. An den Universitäten nehmen immer mehr Professoren und Studenten an internationalen Austauschprogrammen teil. Überall entsteht das gleiche neue Städtebild aus Glas und Beton. Auf den Raststätten der Autobahnen machen überall die gleich müden Fahrer Pause. Das Angebot in den Einkaufszentren weist immer mehr, ob in Amerika oder Europa, die gleichen Markenartikel auf, und überall sind die gleichen Automodelle anzutreffen. Die moderne Welt steuert unaufhaltsam auf eine gemeinsame Weltzivilisation zu, die nach westlichem Muster immer einförmiger wird und bald keinen Raum mehr für eine individuelle, bodenständige Ausprägung lässt.
Insbruck, [Mitte Juni] 1974
Die Unterschiede
Und dennoch, trotz der äusseren Ähnlichkeiten im Alltagsbild der Grossstädte und im Reiseverkehr, bestehen zwischen Amerika und Europa noch grosse Unterschiede. Diese werden in dem Augenblick sichtbar, sobald man mit den Lebensgewohnheiten der Einzelbürger vertraut wird. Was besonders auffällt, sind die geistige Verkrampfung, Griesgrämigkeit und Resignation der Zukunft gegenüber, welche die Menschen hier zur Schau tragen. Doch die Pracht der Landschaft und der kultivierte Sinn für das Schöne wiegen vieles auf.
Innsbruck, 20. Juni 1974
Polarisierung
Die europäische Gesellschaft droht immer an der verschlissenen Nahtstelle zwischen extremer Rechten und extremer Linken auseinanderzubrechen. Diese Polarisierung kennzeichnet fast alle Lebensbereiche: Politik, Erziehung, Religion. Während die offizielle Kirche sich noch im barocken Prunkt gefällt, führen liberale Jugendseelsorger mit ihren Schutzbefohlenen Experimente durch, dass den Eltern die Haare zu Berge stehen.
Insbruck, [22. Juni] 1974
Die Reformwut
Der Nachholbedarf an Demokratie hat in Österreich und in der Bundesrepublik die Reformwut ausgelöst. Es gibt nichts, was nicht als reformbedürftig betrachtet und wozu ein Mitspracherecht verlangt wird. Das geht von der Volksschule bis zur Universität, von der Gewerkschaft bis zum Betrieb. Es betrifft die Rechtspflege, den Ärztedienst genau so wie den Wehrdienst, die Ausländerfürsorge, das Altersheim, den Kindergarten und die Sozialversicherung, ganz zu schweigen von den politischen Parteien. Alles soll reformiert werden. Doch mutet dieses Verlangen nach Reform ziemlich konfus an. Die Reformvorschläge überschlagen sich, sie sind so zahlreich geworden, dass sie sich gegenseitig wieder aufheben, und im Grunde genommen herzlich wenig Neues geschieht.
München, [25. Juni] 1974
Fussgängerzone
Die Innenstadt von München hat durch die Fussgängerzone sehr gewonnen. Hier wird ein Weg gezeigt, wie historische Innen- und Altstädte saniert, erhalten und den Besuchern nutzbar gemacht werden können. Vielleicht kann auf diesem Wege noch manche historische Innenstadt, die schon als verloren abgeschrieben wurde, gerettet werden.
Ein rascher Gang durch ein Münchner Warenhaus zeugt vom hohen Lebensstandard und von der industriellen Potenz der Bundesrepublik. Was man hier sieht, unterscheidet sich kaum mehr von einem amerikanischen department store. Die Fülle und Angleichung des Warenangebots sind schlechthin verblüffend.
Insbruck, 26. Juni 1974
Der Fortbestand der NATO gesichert
Nach 25 Jahren hätte das Nordatlantische Verteidigungsbündnis entweder schrumpfen oder sich auflösen können, wenn nicht ein starker Wille zu dessen Fortbestand vorhanden gewesen wäre. Unter der Führung von Präsident Nixon haben die 15 NATO Länder in Brüssel eine neue Deklaration unterzeichnet, in der dargelegt wird, dass die Verteidigung der Mitgliedstaaten unteilbar ist, und dass Amerika und Europa aufeinander angewiesen bleiben. Ebenso deutlich wurde mit den Stimmen der BRD, Frankreichs und Grossbritanniens ausgesprochen, dass die Präsenz amerikanischer Truppen für die Sicherheit Westeuropas lebenswichtig ist.
Anmerkung
[Nach Artikel 13 des NATO Vertrages vom 4. April 1949 stand es jedem Mitgliedstaat frei, nach 20 Jahren seinen Austritt zu erklären. Keines der 15 NATO Länder ist ausgetreten. Frankreich hatte sich 1966 aus der integrierten Militärstruktur zurückgezogen, blieb aber Mitglied der NATO. Das NATO Hauptquartier in Europa wurde aber von Paris nach Brüssel verlegt. 1974 gehörten folgende 15 Staaten der NATO an: Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Grossbritannien, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Türkei und die USA. Griechenland und die Türkei waren 1952, die Bundesrepublik 1955 der NATO beigetreten.]
Innsbruck, 28. Juni 1974
Das Anfang vom Ende
Heute vor 60 Jahren wurde in Sarajewo das österreichische Thronfolgerehepaar ermordet. Das war nicht nur der Anfang vom Ende der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, sondern überhaupt des alten Europas, seiner Machtstellung, Friedensordnung und Lebensform, wie sie über Jahrhunderte bestanden hatte. Zurückblickend könnte man mit Stefan Zweig die Empfindung teilen, als ob die Welt von gestern in der tiefen, uns längst entschwundenen Vergangenheit zurückliege. Aber soweit liegt das Attentat von Sarawejo gar nicht zurück, leben doch noch genügend Menschen, die sich an die Ereignisse vom 28. Juni 1914 erinnern können. Von jenem Tag an hat Europa keine Ruhe mehr gefunden und ist heute noch auf der Flucht vor sich selbst.
Insbruck, 29. Juni 1974
Die Brera wird geschlossen
Die Brera in Mailand, eine der berühmtesten Gemäldegalerien in Europa, musste ihre Pforten schliessen, da es nicht mehr möglich war, das Aufsichtspersonal zu bezahlen und die baufälligen Räume zu renovieren.
Insbruck, [30. Juni] 1974
Schemenhaft
Wenn man nach der Emigration in die Heimat zurückkehrt, wirken die Lebensverhältnisse im höchsten Grade unwirklich oder schemenhaft. Man kann nur mehr schwer die Freuden und Sorgen selbst der nahestehenden Menschen mitempfinden. Der Entfremdungsprozess schreitet unweigerlich und unaufhaltsam fort. Eine innere Distanz ist entstanden, sodass man einander vorbeispricht und eigentlich nichts mehr Wesentliches zu sagen hat.