University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


South Bend, 1. September 1974

Den Atlantik überwunden

Das Düsenflugzeug hat den Atlantik als jahrhundertealte Barriere zwischen Europa und Nordamerika überwunden. Wenn man vom Charles de Gaulle abfliegt und nach einigen Stunden am John F. Kennedy International Airport in New York landet, hat man überhaupt nicht mehr das Gefühl, einen Ozean überquert, sondern einfach eine Flugstrecke hinter sich gebracht zu haben. Wenn aber auch die physische Distanz zwischen Amerika und Europa auf ein paar Flugstunden zusammengeschrumpft ist, so bleiben die äusseren und inneren Unterschiede doch aufrecht, ja sie prallen vielleicht gerade deshalb umso stärker aufeinander.

Nichts ist auffallender, wenn man nach Europa kommt, als der Reichtum der Kultur und die Schönheit der mit Sorgfalt gepflegten Landschaft. Dem steht aber die Lethargie und windschiefe Armut entgegen, die sich in den Winkeln der Altstädte und in den Hinterhöfen weiter Wohnbezirke eingenistet haben. Diese Kehrseite des europäischen Lebens wirkt auf den Besucher aus Amerika oft schockierend. Umgekehrt wird der europäische Besucher, der nach New York kommt, zunächst von der Betriebsamkeit und dem modernen Zug des Lebens überrascht sein. Andererseits wird er aber bald der Einförmigkeit überdrüssig werden und von dem Schmutz in den Strassen, über den er steigt, angeekelt sein. Er wird bald vermissen, dass er überhaupt nicht mehr zu Fuss gehen kann. Und er wird dem Ausmass der Verschwendung, dem er auf Schritt und Tritt begegnet, zunächst fassungslos gegenüberstehen.

South Bend, 4. September 1974

Botschafteraustausch DDR – USA

Zwischen den USA und der DDR sind heute im State Department Verträge zur Aufnahme gegenseitiger diplomatischer Beziehungen unterzeichnet worden. Ohne viel Aufhebens und in betont sachlicher Atmosphäre wurde die DDR als souveräner Staat von den USA anerkannt. Damit sind die Hoffnungen auf die Wiedervereinigung in die weite Zukunft entrückt. Es hat den Anschein, als wäre die deutsche Teilung stillschweigend im Rahmen der Détente hingenommen worden. Die ungeheure Tragik, die sich hinter dem deutschen Schicksal verbirgt, wird im Ausland nicht voll erfasst. Amerikaner deutscher Herkunft stehen nun vor dem Dilemma, ob sie sich der BRD oder der DDR zugehörig fühlen.

South Bend, 8. September 1974

The Pardon – Die Begnadigung

Präsident Ford erliess eine Generalamnestie, die Richard Nixon vor gerichtlichen Klagen in der Watergate Affäre schützt. Der Sturm der Entrüstung, welchen die Begnadigung von Nixon ausgelöst hat, verdeutlicht, wie sehr Watergate noch die Gemüter bewegt. Die Verbitterung darüber sitzt tief. Sie wird gewiss bei den kommenden Kongresswahlen spürbar in Erscheinung treten, möglicherweise auch die Präsidentschaftswahl 1976 beeinflussen.

South Bend, [Mitte September] 1974

Was die Welt von Amerika alles erwartet

Mehr den je konzentrieren sich die Erwartungen eines Grossteils der Welt auf die Vereinigten Staaten. Amerika soll im Mittleren Osten Frieden stiften, zwischen Arabern und Israelis verhandeln, und zugleich in der Zypernkrise zwischen Griechen und Türken vermitteln. Es soll für die gesamte freie Welt – für Europa wie für Japan – den Atomschutz gegenüber dem Ostblock und China aufrecht erhalten. Gleichzeitig soll Amerika Volkswagen und Toyotas importieren, obwohl die eigene Autoproduktion auf Halde steht. Es soll die OPEC dazu bewegen, den Preis für das Rohöl nicht weiter hinaufzusetzen; ferner die eigene Handelsbilanz in Ordnung bringen und die Inflation bekämpfen. Die Länder der Dritten Welt erwarten, dass Amerika ihnen Lebensmittel liefert und zugleich ihre bankrotten Haushalte saniert. Selbst die Ostblockländer erwarten sich von Amerika technische Hilfe und langfristige Kredite zu möglichst niedrigen Zinsen. Wie wird Amerika das alles leisten können? Es sieht sich immer mehr in die Lage eines reichen Erbonkels versetzt, der längst nicht mehr so viel zu vergeben hat, als man von ihm erwartet.

South Bend, 24. September 1974

Rockefeller Hearings

Präsident Ford hat Nelson A. Rockefeller als Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten vorgeschlagen. Die “hearings” (Anhörverfahren) vor dem Senate Rules Committee zur Bestäti-gung seiner Kandidatur bringen die Persönlichkeit von Rockefeller oder “Rocky,” wie er gerne im Volksmund genannt wird, in das Rampenlicht der Öffentlichkeit. Nelson Rockefeller erweist sich als versierter und von seinen Überzeugungen bestimmter Politiker, der sich durch die vielen gezielten Fragen nicht aufs Glatteis führen lässt. Er gilt als liberaler Politiker aus dem konserva-tiven Lager. Dabei gibt er sich betont patriotisch, bezieht sich auf die Gründungsväter und zitiert freimütig aus den Federalist Papers. So wie die “hearings” verlaufen, dürfte nichts im Wege stehen, dass er als US-Vizepräsident bestätigt wird.

South Bend, 29. September 1974

Ein Bund der Vaterländer

Die hohen Erwartungen der 50er-Jahre auf eine baldige europäische Einigung sind eher der Enttäuschung gewichen. Es setzt sich immer mehr der Gedanke durch, dass Europa sich zu einem Bund der Vaterländer zusammenschliesst. Das wäre ein Kompromiss zwischen föderaler Einheit und den nationalen Sonderbestrebungen der einzelnen Mitgliedstaaten, wohl die bequemste Lösung, die aber letzten Endes wirkungslos bliebe.


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