Präsident Ford in Europa
Auf seiner ersten Europareise setzt Präsident Gerald Ford die von seinem Vorgänger eingeleitete Politik zur Stärkung des Nordatlantischen Bündnisses fort. Die erste Station der Reise in Brüssel (28.-31. Mai) diente der Aufgabe, die NATO neu zu beleben und den europäischen Partnern zu versichern, dass Amerika fest zu seinen Bündnisverpflichtungen steht. Da auch die Europäer nach den jüngsten Erfahrungen in Vietnam eine weitere Stärkung des Bündnisses befürworten, waren sich beide Seiten einig wie schon lange nicht mehr. Zur Sicherung des Mittelmeerraumes wird in Madrid (31. Mai 1. Juni) über die Beibehaltung der amerikanischen Luftstützpunkte in Spanien verhandelt. Vom 1.-3. Juni ist ein Treffen von Gerald Ford mit Anwar Sadat, dem Präsidenten von Ägypten, auf Schloss Fuschl bei Salzburg vorgesehen, um die Friedensver-handlungen im Mittleren Osten weiter voranzubringen. Während Sadat auf die Rückgabe der Gebiete auf der Halbinsel Sinai besteht, ist Israel noch nicht geneigt, dem zuzustimmen. Am 3. Juni findet die Audienz bei Papst Paul VI. im Vatikan statt, bei der humanitäre Fragen erörtert werden.
5. Juni 1975
Präsident Ford kam gut gelaunt, seiner selbst sicher und in seiner Position gestärkt aus Europa zurück. Er wurde von Secretary of State Henry Kissinger geschickt durch das Labyrinth der europäischen Politik geführt, und er hat sich auch gut mit den Regierungschefs in Europa verstanden. Obwohl Spannungen zwischen Amerika und Europa weiterhin bestehen bleiben, ist man sich durch diese Reise wieder viel näher gekommen.
[Im Juni 1975 hielt ich mich mehrere Wochen in Cambridge, Massachusetts, auf, um an der Houghton Library der Harvard University meinen Forschungsarbeiten zur amerikanischen Literatur nachzugehen.]
Cambridge, Mass., 7. Juni 1975
Der Schulstreit in Boston
In einer geradezu ironischen Wende der amerikanischen Geschichte wird hier in Boston, von wo im vorigen Jahrhundert das Abolitionist Movement, die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei ausgegangen war, das letzte Rückzugsgefecht der Rassentrennung ausgetragen. Seit einem Jahr tobt hier der Schulstreit um die Desegregation. Bundesrichter, US District Judge W. Arthur Garrity, Jr. hatte in einem Urteil im Vorjahr befunden, dass die Schulen in Boston mit vorgefasster Absicht die Rassentrennung praktizierten. Nachdem er die Integrierung des Schulsystems angeordnet hatte, mussten rund 21.000 Kinder quer durch die Stadt mit Bussen transportiert werden, um eine ausgewogene Quota zwischen weissen und farbigen Kindern in allen Schulen zu erreichen. Es kam zu laufenden Demonstrationen, Ausschreitungen und Prügelszenen mit der Polizei. Doch Garrity liess sich durch die vergiftete Atmosphäre nicht irre machen. Mit viel Mut beharrte er auf seinem Entschluss: Das Schulsystem muss dem Gesetz und der Verfassung entsprechend die Schranken der Rassentrennung abbauen. In einem 90 Seiten umfassenden Bericht hat er nun sein richerliches Urteil historisch fundiert. In der Frage des forced busing, des erzwungenen Transports von Schulkindern mit Bussen, könnten Konzessionen gemacht werden, weil der Streit darüber zu nichts führe. Doch in der letzten Konsequenz wird die Schulfrage in Boston erst dann gelöst sein, wenn es nicht mehr weisse oder schwarze Schulen, sondern einfach Schulen in Boston gibt.
Boston, 12. Juni 1975
Der soziale Wandel
Von John Winthrop, dem ersten Gouverneur der Massachusetts Bay Colony im 17. Jht., bis Michael S. Dukakis, dem heutigen Gouverneur von Massachusetts, hat sich ein enormer sozialer Wandel vollzogen. Aus einer ursprünglich rein britischen Kolonie puritanischer Dissidenten ist ein Staatsgebilde geworden, das alle nur denkbaren ethnischen Elemente aus Europa, Afrika und Asien in sich vereint. Die irische und italienische Einwanderung im 19. und frühen 20. Jht. brachte ein starkes katholisches Element nach Massachusetts. Während Winthrops Hauptsorge der Schutz der Kolonie vor Überfällen gewesen war, steht Dukakis im Augenblick vor der Schwierigkeit, wie er die Sozialunterstützung an die vielen Bedürftigen auszahlen soll.
Cambridge, Mass., 12. Juni 1975
Commencement Exercises
Bei den diesjährigen Commencement Exercises, den Promotionen und Sponsionen der Harvard University, wurden 4.396 akademische Grade verliehen. Davon waren 3.015 graduate and professional degrees, das sind Magistergrade und Doktorate der Philosophie einschliesslich Naturwissenschaften sowie der Medizin und Jurisprudenz. 1281 Studenten graduierten mit dem Bakkalaureat. Das war insgesamt die grösste Anzahl an Graduierungen in der 350-jährigen Geschichte der Harvard University. Regen und dumpfe Luft beeinträchtigten die Zeremonie im Freien auf dem Harvard Yard, was aber nicht die gute Stimmung der Graduierenden und Gäste schmälerte.
Boston, 15. Juni 1975
Bankrott der Grossstädte
Ein ernstes Problem ist in der Finanzierung der Grossstädte in Amerika entstanden. Vor kurzem hat New York Bankrott angemeldet, und nun scheint Boston zu folgen. Mit der anhaltenden Flucht in die Vororte wird den Stadtverwaltungen die Steuergrundlage entzogen, während sie für die Sozialleistungen der verarmten Innenstädte aufkommen müssen. Durch diesen Notstand werden die Schulen, die Polizei, die Feuerwehr, die Müllabfuhr, das Transportsystem usw., einfach alle Dienste, die eine Stadt zu leisten hat, in Mitleidenschaft gezogen. Aus diesem Teufelskreis ist schwer herauszukommen.
Cambridge, Mass., 17. Juni 1975
Der Kommunismus in Italien
Die jüngsten Regionalwahlen vom 15. und 16. Juni haben wieder die Gefahr eines kommunistischen Italiens heraufbeschworen. Die Kommunisten gewannen 33.4% der Stimmen, womit sie knapp an die Demo-Christiana herankommen. In Rom, Mailand, Turin und Venedig erlangten sie die Mehrheit. Die Mitbestimmung in der Regierung, wenn nicht von vornherein eine kommunistische Regierung gebildet wird, ist daher sehr wahrscheinlich.
Cambridge, Mass., 18. Juni 1975
Walter Scheel warnt
Der westdeutsche Bundespräsident Walter Scheel hat in einer Ansprache vor dem amerikanischen Kongress davor gewarnt, dass die kommunistischen Ideologien Europa in den Griff bekommen könnten, wenn das soziale Bewusstsein des Westens nicht geschärft und die Probleme der Ernährung, Energie und Arbeitslosigkeit gelöst werden. Scheel äusserte sich über den Wahlsieg der Kommunisten in Italien besorgt. Er sah die Hauptgefahr für die politische Entwicklung in Europa in der Auflösung der gemässigten demokratischen Parteien. Er warnte vor der Radikalisierung und kommunistischen Gefahr in Europa, die auch in Washington ernst genommen wird.
Cambridge, Mass., 22. Juni 1975
Das Erdbeben von Las Vegas
Als in diesen Tagen die Hochhäuser von Las Vegas in Nevada in ihren Stahlgerüsten zu schwanken anfingen, wurden nicht nur die Bewohner der Spielkasino-Stadt unsanft aus dem Schlaf gerissen, sondern auch der Weltöffentlichkeit wiederum ins Bewusstsein gerufen, dass das Atomzeitalter nichts von seinem Schrecken verloren hat. Rund 120 Meilen (192 km) von Las Vegas entfernt wurde in der Wüste von Nevada in 1.000 Meter Tiefe eine Wasserstoffbombe in der Megatonnenkategorie gezündet. Die Sprengkraft übertraf fünfzigmal diejenige von Hiroshima. Es wurde dadurch ein leichtes Erdbeben ausgelöst, das im Umkreis von 200 Meilen (320 km) spürbar war. Das Zerstörungspotential einer solchen Bombe übersteigt die Fassungskraft. Es ist einfach ein Gebot der Vernunft, dass die SALT-Gespräche fortgeführt werden, und dass alles unternommen wird, um die Gefahr eines Atomkrieges zu verhindern.