Assisi, [Mitte Februar] 1978
Eindrücke auf der Reise durch Italien
Man kann es Hermann Hesse nachfühlen. Die Toskana und Umbrien die Gebiete um Florenz, Perugia und Assisi gehören zu den schönsten Kulturlandschaften in Europa. Das Auge kann sich an der Schönheit kaum sattsehen. Ob es sich um die vielfarbige Marmorfassade der Kathedrale Maria del Fiore, um Brunelleschis Kuppel, das Spätwerk von Michelangelo, die Pietà im Dom von Florenz, die unvergleichlichen Meisterwerke der Toskanischen Malerschule in den Uffizien oder die Fresken von Cimabue und Giotto in der Basilika des hl. Franz von Assisi handelt, das ewige Italien hat nichts von seiner Anziehungskraft verloren.
Doch schon ein Schritt durch das alte Zentrum von Perugia verdeutlicht die Problematik des heutigen Italien. Wie kann man in diesen jahrhundertealten Mauern noch leben? Woimmer man hinblickt, drängt sich die Innenstadt als gravierendes Problem auf. In den engen Gassen wohnt die Armut, die Häuser sind verfallen, und die Strassen ersticken im Autoverkehr. Die politischen Folgen dieser Misere sind verständlich.
Rom, 20. Februar 1978
Die Misere der Innenstädte in Italien ist besonders auch in Rom zu sehen. In einer in diesem Ausmass noch nie erlebten Schmieraktion wurden, wo immer sich nur eine geduldige Wand anbot, Hammer und Sichel hingeschmiert. Ohne Zweifel wartet der eine Teil der italienischen Bevölkerung auf den Kommunismus wie auf eine Heilslehre, die alle Probleme löst, während der andere den Kommunismus ebenso stark verabscheut wie fürchtet. Diese Polarisierung der italienischen Gesellschaft hat im ganzen Land zu einer bedrohlichen Spannung, zu Misstrauen und Angst geführt, wenn nicht zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Die mittleren Schulen und Universitäten wurden durch ständige Agitationen und gewaltätige Ausschreitungen in ein Chaos gestürzt.
22. Februar 1978
Die Papstaudienz
Papst Paul VI. hat für jeden Mittwoch um 11 Uhr in der neuen 6.000 Personen fassenden Aula del Nervi eine Generalaudienz angesetzt, zu der Besucher in Rom und besonders dazu eingeladene Schulen Zutritt haben. Den Papst von Angesicht zu sehen und sprechen zu hören, ist ein ergreifendes Erlebnis. Paul VI. sprach mit gebrochener, aber klar betonter, einprägsamer Stimme. Er hielt an die Gläubigen im Saal und an die Christenheit eine Fastenpredigt, die sich durch Gedankentiefe ebenso wie durch überzeugende Gläubigkeit auszeichnete. Der Sinn der Quaresima, betonte er, sei Umkehr und Erneuerung des christlichen Gewissens. Papst Paul VI. strahlt eine gewinnende Menschlichkeit aus. Dabei lässt seine Erscheinung einen scharfen Intellekt und einen nach innen gekehrten Menschen erkennen. Die aufgelockerte menschliche Atmosphäre dieser Audienz kam auch dadurch zum Ausdruck, dass daran die Akrobatengruppe des Zirkus Medrano teilnahm, die zu Beginn und zum Schluss Proben ihrer Kunst vorführten. Nicht nur die Besucher, auch Paul VI. verfolgte die Darbietungen mit dem grössten Vergnügen.
Neapel, [Ende Februar] 1978
Wer mit der romantischen Vorstellung des O sole mio nach Neapel kommt, wird eine bittere Enttäuschung erleben. Neapel ist zu einem Inferno der modernen Industriegesellschaft geworden. Über der so gepriesenen Bucht mit Ausblick auf den Vesuv hängen dichte Schwaden von den Abdämpfen der wahllos hingestellten Raffinerien. In der Stadt stösst der Besucher auf eine beispiellose Armut und Verwahrlosung. Neapel dürfte wohl eine der ärgsten slums mit all ihren üblen Begleiterscheinungen haben, die heute in den Industrieländern anzutreffen sind. Der Niedergang des Seeverkehrs hat zum Verfall des Hafens noch das seine dazu beigetragen. Die Megalopolis, in der einige Millionen Menschen eng zusammengepfercht leben, erstreckt sich weit über Neapel hinaus bis nach Salerno und Sorrent. Die Probleme Italiens liegen heute in den kleinen und mittleren Städten, die mit der Industrialisierung nicht fertig zu werden scheinen. Darum geht das Tauziehen zwischen Andreotti und Berlinguer.