University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


South Bend, Sonntag, 13. Dezember 1981

Der Ausnahmezustand in Polen

Heute nach Mitternacht stürmten Polizeikommandos die Zentralen der freien Gewerkschaft “Solidarnosc” in Warschau, Gdansk und anderen polnischen Städten und nahmen deren Führer fest. Gleichzeitig wurde der Ausnahmezustand in Polen ausgerufen. Das Militär steht einsatzbereit, Nachrichtenvermittlungen wurden unterbunden sowie die Grenzen und Flughäfen gesperrt. Es wird mit brutaler Gewalt jede Regung von Freiheit niedergeschlagen. Der Westen steht heute früh vor einer Reihe bedrängender Fragen: Wird es in Polen zur Revolution kommen? Kann sich die Solidarität, der 9.5 Millionen Mitglieder angehören, behaupten? Wo bleibt der Schutz der Menschenrechte für die Verhafteten? Werden die Truppen der Ostblock-Staaten in Polen einmarschieren, wenn das kommunistische Regime an Boden verlieren sollte? Welche Massnahmen gegen diese Ereignisse im Osten ergreifen?

20. Dezember 1981

Ärger als befürchtet

In der vergangenen Woche hat sich die Militärdiktatur über Polen herabgesenkt. Von den spärlichen Berichten, die in den Westen durchkamen, konnte man sich ungefähr ein Bild davon machen, was geschehen ist. Militär und Spezialeinheiten der Polizel griffen mit jener brutalen Härte durch, die man für überwunden glaubte. Wo in den Fabriken gestreikt oder Widerstand geleistet wurde, griffen die Panzer ein. Es hat Tote und viele Verwundete gegeben. Lech Walesa bleibt unter Hausarrest. Tausende von Menschen fIüchteten ins Ausland.

Ein Konvoi von zurückkehrenden holländischen Lastwagen, die Hilfslieferungen an Lebensmitteln nach Polen brachten, berichtete von gewalttätigen Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung, wo immer sich eine Gruppe von Menschen ansammelte. Was in Polen geschieht, ist ärger, als man es sich vorstellen konnte. Dabei steht der Winter vor der Tür ohne genügend Kohle und Lebensmittel. Was wird mit den Tausenden von politischen Inhaftierten geschehen? Ergreifende Szenen haben sich in Chicago abgespielt, wenn immer es möglich war, Familienangehörige noch in letzter Minute aus Polen herauszubringen.

21. Dezember 1981

Das zweite Polen

In den USA leben rund 10 Millionen Menschen polnischer Herkunft, vorwiegend im Raum von Chicago konzentriert. In diesen Tagen der Drangsal der alten Heimat macht sich das zweite Polen bemerkbar. Was in Polen geschieht, wird hier nicht gleichgültig hingenommen. Die Berichte von Unmenschlichkeiten, Terror und Hunger bewegen hier die Menschen und veranlassen sie zu handeln. Im ärgsten Schneegestöber und bei klirrender Kälte von -10 Grad F zogen Tausende in Chicago und in den umliegenden Ortschaften auf die Strasse, um ihr Mitgefühl für das leidende Polen zu bekunden.

Der polnische Botschafter in Washington Romuald Spasowski, ein erfahrener Berufsdiplomat, hat aus Protest sein Amt zurückgelegt und um politisches Asyl angesucht. Bei seinem Rücktritt hat Spasowski einen erschütternden Appell an das Pressekorps in Washington gerichtet, indem er unter anderem sagte: “This is the most flagrant and brutal violation of human rights, which makes a mockery of the Polish signature put on the final act of the Helsinki accords” (Das ist die schamloseste und brutalste Verletzung der Menschenrechte, welche die polnische Unterschrift unter die Schlussakte von Helsinki zum Hohn macht).

Nachtrag

[Präsident Reagan, der davon überzeugt war, dass Moskau an den Ereignissen in Polen mitverantwortlich war, verhängte unmittelbar gegen die Sowjetunion eine Reihe von Sanktionen. Diese stiessen allerdings auf heftige Kritik in Westeuropa, sodass sie das westliche Bündnis mehr zu teilen als zu einem gemeinsamen Vorgehen zu einigen drohten. Am umstrittesten war der Boykott der bereits im Bau befindlichen westsibirischen Erdgasleitung, die Westeuropa mit zusätzlicher Energie versorgt hätte. Britische, deutsche und italienische Firmen hatten bereits bindende Verträge für die Lieferung von Baumaterialien abgeschlossen. Sie hätten durch den Abbruch der Lieferungen hohe finanzielle Einbussen erlitten, die unweigerlich zu Entlassungen geführt hätten. Margaret Thatcher gab zu bedenken, dass es wenig sinnvoll wäre, Sanktionen durchzuführen, die dem Westen mehr als dem Osten schadeten. Der Streit über die Massnahmen, wie man gegen den Osten vorgehen sollte, hielt noch lange an. (Vgl. Thatcher, The Downing Street Years, pp. 252-54.)]


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