University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


Innsbruck, 9. Juni 1985

Gegensätze im Atlantischen Bündnis

Auf der Konferenz der Aussenminister der NATO in Portugal sind die scheinbar unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Atlantischen Bündnisses offen zutage getreten. Während die europäischen Mitglieder des Bündnisses darauf drängten, das bisher nicht ratifizierte SALT II-Abkommen einzuhalten, konnten sie sich nicht dazu entschliessen, vor allem auf Drängen Frankreichs hin, einer Beteiligung am SDI-Projekt von Präsident Reagan zuzustimmen. Hier scheint sich für die kommenden Jahre eine Divergenz zwischen Europa und Amerika anzubahnen.

Sonntag, 16. Juni 1985

Eine Irrfahrt des Schreckens

Im östlichen Mittelmeer spielt sich wieder eine Flugzeugentführung ab. Am Freitag wurde eine TWA-Maschine, die von Athen zum Flug nach Rom startete, von schiitischen Extremisten entführt. Seit drei Tagen schon fliegt die Boeing 727 mit 150 Passagieren an Bord in einer Irrfahrt des Schreckens zwischen Algiers und Beirut erratisch hin und her. Während ca. 100 Passagiere freigegeben wurden, werden hauptsächlich 40 amerikanische männliche Passagiere als Geiseln festgehalten. Durch die amerikanischen Geiseln möchten die Terroristen die Freilassung von schiitischen Gefangenen aus israelischen Gefängnissen erzwingen. Was die Menschen an Bord mitmachen, lässt sich nur erahnen.

17. Juni 1985

Die Terroristen haben nun angeblich mit Hilfe ihrer schiitischen Gesinnungsbrüder die amerikanischen Geiseln aus der TWA-Maschine herausgeholt und in verschiedene Schlupfwinkel in den Slums von Beirut versteckt. Die Situation erinnert an die Geiselnahme in Teheran vor sechs Jahren. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Reagan Regierung diesmal zu einem Vergeltungsschlag ausholt und in Beirut eingreift. Die Flugzeugentführer halten inzwischen unbeugsam an der Freilassung von 700 schiitischen Gefangenen fest. Um eine Lösung herbeizuführen, muss hinter den Kulissen durch verschiedene Vermittler verhandelt werden.

30. Juni 1985

Das Geiseldrama ist zu einem unblutigen Ende gekommen. Heute Nachmittag war unter Überwachung vom Roten Kreuz ein Konvoi mit den Geiseln von Beirut nach Damaskus unterwegs. In fieberhafter, geheimer, diplomatischer Aktivität wurde in den letzten Tagen die Freilassung der amerikanischen Geiseln in Beirut ausgehandelt. Israel stimmte zu, die 730 schiitischen Gefangenen freizulassen, und die USA versprachen, nach der Freilassung der Geiseln keine militärischen Vergeltungsmassnahmen gegen Libanon zu unternehmen. Der syrische Präsident Hafez al-Assad hatte die Vermittlerrolle übernommen. Er sagte zu, die Geiseln in Damaskus aufzunehmen, und garantierte ihren sicheren Weiterflug nach Frankfurt. In den späten Abendnachrichten konnte man die Bilder sehen, wie der Konvoi mit den Geiseln in Damaskus eintraf. Im Verlaufe dieser Flugzeugentführung haben sich grauenhafte Szenen abgespielt. Erst jetzt kann man wieder aufatmen und das Ende des Geiseldramas für wahr halten.


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