University of Notre Dame
Archives   


The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


South Bend, 8. Dezember 1987

Der historische Wendepunkt

Das Gipfeltreffen in Washington wurde vom 8. bis einschliesslich 10. Dezember angesetzt. Der Höhepunkt des Treffens fand gleich am ersten Tag statt. Heute um 2 p.m. EST wurde in einer schlichten, aber durch ihre Tragweite sichtbar ergreifende Zeremonie im Ostzimmer des Weissen Hauses von Präsident Ronald Reagan und Generalsekretär Mikhail Gorbatschow der INF-Vertrag unterzeichnet. Damit werden hauptsächlich im europäischen Raum auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs die Kurz- und Mittelstreckenraketen sowie die nuklearen Sprengköpfe abgebaut. Europa wird dadurch von dem Albtraum befreit, einer unmittelbaren Bedrohung durch Atomwaffen ausgesetzt zu sein. Die Unterzeichnung des INF-Vertrages wird allgemein als ein historischer Wendepunkt aufgefasst. Zum erstenmal wird seit Ende des 2. Weltkrieges eine ganze Kategorie von Nuklearwaffen von beiden Supermächten eliminiert. Das Wettrüsten des Kalten Krieges kann wohl als überwunden betrachtet werden, wodurch eine neue Ära der Verständigungsbereitschaft zwischen Ost und West eingeleitet wird. Der INF-Vertrag bedarf noch der Zweidrittel Zustimmung im Senat. Es besteht jedoch kein Zweifel darüber, dass der Vertrag trotz einiger Einwände ratifiziert wird. Die mehr als 200 Seiten des Vertragswerkes veranschaulichen, wie komplex die Materie ist. Jeder Schriftzug der Unterzeichnung konnte von der ganzen Welt über das Fernsehen mitverfolgt werden.

South Bend, 10. Dezember 1987

Mr. Glasnost

Mikhail Gorbatschow, der allgemein als “General Secretary” angesprochen wird, hat in den drei Tagen des Gipfeltreffens in Washington das von ihm geprägte Schlagwort “Glasnost” so populär gemacht, dass er selbst als “Mr.Glasnost” apostrophiert wird. Diese neue Einstellung der Offenheit wirkt überzeugend. Gorbatschow hat in der Art der westlichen Meinungsbildung das Image seiner Politik geprägt. Er sucht ernsthaft einen Ausgleich mit Amerika und strebt eine neue Annäherung der beiden Supermächte an. Es geht ihm um die strategische Stabilität, wobei auch der gegenseitige Abbau der Interkontinentalraketen um 50% zur Diskussion steht. Der entscheidende Durchbruch auf dem dornigen Verhandlungsweg zum Abschluss des INF-Vertrages war ohne Zweifel die Zustimmung auf beiden Seiten, Inspektoren zur Überprüfung der Durchführung an Ort und Stelle zuzulassen.

Reagans Urteil

Nachdem die Illutschin-Maschine mit Mikhail und Raisa Gorbatschow und der russischen Delegation an Bord von der Andrews Air Force Base abgeflogen war, sprach Präsident Reagan um 9 Uhr abends vom Oval Office aus zur amerikanischen Nation. Nach Reagans Urteil war das Gipfeltreffen ein grosser Erfolg. Er erinnerte daran, dass vor Jahren durch den Doppelbeschluss der NATO die Entschlossenheit des Westens bekundet wurde, der Herausforderung durch die Aufstellung der SS-20 Raketen die Stirn zu bieten, und dass dadurch letztlich die sowjetische Seite an den Verhandlungstisch gebracht wurde. Zum erstenmal seit 1945 sei das Wettrüsten nicht nur eingestellt, sondern abgebaut worden. Darüberhinaus wurde der Weg für START (Strategic Arms Reduction Talks), für Verhandlungen über die Reduzierung der strategischen Waffen, d.h. der Interkontinentalraketen geebnet. Der Washingtoner Gipfel mit dem Abschluss des INF-Vertrages sei ein Erfolg für den Weltfrieden, betonte Reagan und hob hervor: “I believe this treaty represents a landmark in postwar history.” (Ich glaube, dass dieser Vertrag einen Meilenstein in der Nachkriegsgeschichte darstellt.)

South Bend, 11. Dezember 1987

Gleich in die Tat umgesetzt

Es wurde keine Zeit verschwendet, den INF-Vertrag gleich in die Tat umzusetzen. Bei seiner Zwischenlandung in Ost-Berlin traf Gorbatschow mit den Regierungschefs des Warschauer Paktes zusammen, um über den Verlauf des Washingtoner Gipfels zu berichten. Es ging vor allem um die Durchführungsbestimmungen des INF-Vertrages. Die DDR und die CSSR stimmten der Zulassung amerikanischer Inspektoren auf ihrem Territorium zu. Zur gleichen Zeit klärte Secretary of State George Shultz in Brüssel die Vertreter der NATO-Länder über das Ergebnis des Washingtoner Gipfels auf, die ihrerseits der Zulassung russischer Inspektoren zustimmten. Der INF-Vertrag wurde von den Vertretern der NATO einhellig begrüsst. Das ist gleichzeitig eine Empfehlung an den US-Senat, den Vertrag zu ratifizieren.

Nachtrag

[Noch am gleichen Tag unterzeichnete George Shultz zusammen mit den Aussenministern der fünf Länder (Belgien, die Bundesrepublik, Grossbritannien, Italien und die Niederlande), auf deren Gebiet die Mittelstreckenraketen aufgestellt waren, ein Übereinkommen, das sowjetische Inspektoren an Ort und Stelle zuliess. Siehe G. Shultz, Turmoil and Triumph, p. 1015.]

South Bend, 24. Dezember 1987

Eine österreichische Weihnacht

Die diesjährige Weihnachtszeit in Amerika ist zu einem überdurchschnittlichen Ausmass Österreich zugewandt. Das begann schon einmal damit, dass Julie Andrews und Placido Domingo “The Sound of Christmas,” eine anspruchsvolle Weihnachtssendung aus Salzburg über die Fernsehstation ABC brachten. Schliesslich wurde auch wie jedes Jahr der Film “The Sound of Music” ausgestahlt. Die Wiener Sängerknaben wirkten als Gäste beim Weihnachtskonzert der Boston Pops mit. Die für sie eigens arrangierte Fassung von “Rudolph, the Rednose Reindeer” hatte besonderen Anklang gefunden und war über Rundfunk und Fernsehen stets zu hören. Die Sängerknaben wurden auch in Washington in die traditionelle “National Christmas Celebration” eingebaut, an der Präsident und Mrs. Reagan teilnahmen. Am Schluss dieser Programme trugen die Sängerknaben mit ihren unverkennbaren Stimmen jeweils “Stille Nacht, heilige Nacht” auf Deutsch und auf Englisch vor. Den Höhepunkt des österreichischen Weihnachtsreigen bildet aber heute Abend die von der Fernsehstation CBS gestaltete Sendung “Christmas Eve Special,” welche in der Hofkirche in Innsbruck aufgenommen wurde und Tiroler Weihnachtsbräuche zeigt.

South Bend, 27. Dezember 1987

Ein Gang durch die Kirchen

Obwohl wie überall in Amerika auch hier in South Bend (E. 100.000) die Innenstadt verfällt und besonders an Sonn- und Feiertagen gespentisch leer aussieht, halten sich die vielen Kirchen erstaunlich gut. Die Museumsgesellschaft für Nordindiana und die “United Religious Community” haben gemeinsam für die Zeit nach Weihnachten einen “Holiday Stroll,” einen Gang durch die Kirchen zu den Feiertagen angekündigt. Zu dieser Veranstaltung haben sich Menschen aus allen Bevölkerungsschichten angemeldet. Meine Frau und ich hatten gestern daran teilgenommen. In rascher Reihenfolge, aber mit warmer Herzlichkeit, wurden wir in einer Gruppe durch die “First United Methodist Church,” “First Presbyterian Church.” “Cathedral of St. James Episcopal”, die Synagoge “Temple Beth-El,” und schliesslich durch die “St. Paul's Lutheran Church” geführt. Das sind nur einige der über 200 Kirchen und Synagogen, die in der Stadt und im näheren Umkreis den Gottesdienst versehen. Die Kirchen in der Innenstadt können auf eine 150-jährige Geschichte zurückblicken, die auf die Pionierzeit im nördlichen Indiana zurückgeht. Sie sind gut gepflegt, und die meisten haben Pläne für Erneuerungen und Zubauten aufzuweisen. Alle diese Kirchen werden ausschliesslich von ihren Glaubensgemeinschaften erhalten und gefördert. Neben der Seelsorge widmen sie sich der sozialen Fürsorge, unterhalten Kindergärten und Sonntagsschulen. Auffallend ist das freundschaftliche Klima zwischen diesen vielen Kirchengemeinschaften. Die Notwendigkeit für die ökumenische Zusammenarbeit liegt hier wie kaum anderswo auf der Hand. Die “United Religious Community” hat dies längst erkannt und zu verwirklichen versucht. Es ist auf diese Weise ein respektvolles und tolerantes Nebeneinander der verschiedenen Religionsgemeinschaften entstanden, die zur Lösung der vielen Probleme im Familien- und Sozialbereich zusammenarbeiten.


<< Lanzinger >>