Die Entlastung
Für diejenigen von uns, welche die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts durchlebt haben, bedeutet die allmählich greifbare Gewissheit, dass der Eiserne Vorhang gefallen ist, und der Kalte Krieg ohne militärische Konfrontation beendet wurde, eine befreiende Entlastung, wie sie spätere Generationen sich schwer werden vorstellen können.
[Anfang Dezember] 1989
Die Berliner Mauer als Souvenir
In den Shopping-Centers in Amerika werden derzeit Stücke der Berliner Mauer als Andenken zum Kauf angeboten. Der Preis beläuft sich auf 10 Dollar pro Stück. Es wird verpackt mit einem Garantieschein übergeben, um zu versichern, dass der Brocken Mörtel auch echt ist. Dieser Souvenirhandel findet guten Absatz. Warum kaufen das Leute? Zum Teil aus Sensationslust, aber auch aus dem Gefühl, ein Andenken von einem ungewöhnlichen historischen Ereignis in die Hand zu bekommen.
Ein Stück Berliner Mauer inmitten von Amerika
[Ein grosses Stück der Berliner Mauer steht auf dem Gelände des Westminster College in Fulton, Missouri, rund 100 Meilen westlich von St. Louis. Dem Umstand, wie dieses Stück Berliner Mauer nach Fulton gekommen ist, geht eine lange Vorgeschichte voraus. Westminster College hatte 1937 die John Findley Green Foundation Lectures, bzw. Vortragsreihe eingerichtet, wonach jedes Jahr eine profilierte Persönlichkeit eingeladen wird, über ein dringendes Zeitproblem zu sprechen.
The Berlin Wall Memorial
on the Campus of Westminster College
in Fulton, Missouri.
(Picture taken by the author in August 1999)
Für das Jahr 1946 wurde Winston Churchill eingeladen. Churchill nahm die Einladung an. Da das bekannte College in seinem Heimatstaat Missouri lag, hatte President Harry S. Truman die Einladung unterstützt und Churchill zugesagt, dass er ihn nach Fulton begleiten und zum Vortrag einführen wird. Die Rede, welche Winston Churchill am 5. März 1946 am Westminster College unter dem Titel The Sinews of Peace (Die Stärke des Friedens) hielt, ist als Iron Curtain Speech in die Nachkriegsgeschichte eingegangen. Churchill richtete sich an die Zuhörer in Amerika und Europa, indem er auf die grosse Gefahr aufmerksam machte, die den Frieden bedrohte. Seine Rede gipfelte in dem Satz: From Stettin in the Baltic to Trieste in the Adriatic, an iron curtain has descended across the Continent. (Von Stettin an der Ostsee bis nach Triest an der Adria hat sich ein eiserner Vorhang quer über den Kontinent gesenkt.) Gleichzeitig wies er darauf hin, dass die historischen Hauptstädte von Zentral- und Osteuropa hinter dieser Linie lagen. Die Rede Churchills wurde von den Medien auf beiden Seiten des Atlantiks aufgegriffen. Von da an ist der Ausdruck Iron Curtain oder Eiserner Vorhang allgemein geläufig geworden. Er wurde zum Synonym für den Kalten Krieg. Westminster College hat zur Erinnerung an diese historische Rede anfangs der 60er-Jahre das Winston Churchill Memorial and Library eingerichtet.
Die in New York lebende Bildhauerin Edwina Sandys, eine Enkelin von Winston Churchill, hatte unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer den Entschluss gefasst, neben der Statue ihres Grossvaters am Westminster College ein Denkmal der gefallenen Berliner Mauer zu errichten. Sie konnte von den Resten der Mauer, die beim Brandenburger Tor lagen, acht mit Graffiti bedeckte Platten aussuchen. Diese16 Tonnen schweren Betonplatten wurden zur Bearbeitung in ihr Studio nach Long Island City in Queens, New York, gebracht. Aus der 11-foot-high by 32-foot-long, der 3.35m hohen und 9.75m langen Wand wurden die Umrisse einer männlichen und einer fraulichen Figur herausgeschnitten. Edwina Sandys nannte ihre Skulptur Breakthrough, womit der Durchbruch durch die Mauer und deren Überwindung versinnbildlicht wird. Breakthrough wurde am Campus vom Westminster College aufgestellt und am 9. November 1990, dem ersten Jahrestag vom Fall der Berliner Mauer, der Öffentlichkeit übergeben. So steht nun dieses Stück Berliner Mauer inmitten von Amerika, fast gespenstisch im scharfen Kontrast zu seiner idyllischen Umgebung, als Mahnmal einer dunklen Vergangenheit.]
Anmerkung
[Für die Information, wie die Churchill-Rede zustandegekommen war, und das Stück der Berliner Mauer auf dem Campus vom Westminster College aufgestellt wurde, bin ich Mr. John Hensley, Curator-Archivist, Winston Churchill Memorial and Library, zu Dank verpflichtet.]
South Bend, 10. Dezember 1989
Prag
Am heutigen Tag der Menschenrechte der Vereinten Nationen hat die Tschechoslowakei zum erstenmal seit 40 Jahren eine Regierung bekommen, in welcher die Kommunisten in der Minderheit sind. Damit wird das Bewusstsein gestärkt, dass die Tage der Repression, der offenen Missachtung der Menschenrechte durch einen von der marxistischen Doktrin diktierten Polizeistaat endgültig überwunden sind.
South Bend, 18. Dezember 1989
Rumänien
Das Ceausescu-Regime in Rumänien weigert sich hartnäckig den stalinistischen Kurs aufzugeben. In einem Akt brutaler Gewaltanwendung wurde über das Wochenende blind auf Demonstranten geschossen. Die Zahl der Todesopfer geht in die Hunderte, wenn nicht Tausende. Trotzdem wird auch in Rumänien die Demokratie-Bewegung nicht mehr aufzuhalten sein.
22. Dezember 1989
Nicolae Ceausescu dankt ab
Nach den blutigen Auseinandersetzungen in Temeswar und Bukarest ist Nicolae Ceausescu zurückgetreten. Ceausescu und seine Frau Elena haben fluchtartig den Regierungspalast verlassen. Ceausescu ist zwar im Ostblock einen eigenwilligen Weg gegangen, aber als Stalinist alter Prägung hat er Rumänien seit 1965 mit harter Hand geführt. Wie brutal und diktatorisch dieses Regime regiert hat, muss erst aufgedeckt werden. Zur Zeit liefern sich die Anhänger Ceausescus und die Befreiungsarmee in Bukarest blutige Strassenschlachten. Die Vorgänge in Rumänien sind ein abschreckendes Beispiel dafür, was in den anderen Ostblockstaaten hätte passieren können. Umso erstaunlicher ist die samtene Revolution, welche Osteuropa in den letzten Monaten erfasst und auf unblutigem Weg in Richtung zur Demokratie umgebildet hat.
23. Dezember 1989
Mit Entsetzen hat die Weltöffentlichkeit erfahren, dass bei dem Massaker in Temeswar an die 4.500 Menschen niedergemetzelt wurden. Ausserhalb der Stadt wurden in offenen Massengräbern die Leichen, darunter Frauen und Kinder, gefunden. Sie waren rücksichtslos den Maschinengewehrsalven zum Opfer gefallen. [The New York Times, Titelseite, 23. Dezember 1989.]
25. Dezember 1989
Weihnachten in Rumänien
Trotz des Bürgerkrieges und der verworrenen Situation im ganzen Land wurden in Rumänien Christbäume angezündet. Es wurde öffentlich Weihnachten gefeiert, was seit Jahrzehnten nur mehr versteckt im Geheimen gemacht werden konnte.
Washington, DC, 30. Dezember 1989
Die Jahrestagung der MLA
[Die 1883 gegründete Modern Language Association of America (MLA) ist die wichtigste Fachorganisation für die neueren Sprachen in Amerika. Die Annual Convention oder Jahrestagung der MLA wird jeweils vom 27.-30. Dezember abgehalten. Mit 8.000 bis 10.000 Teilnehmern ist die Jahrestagung der MLA die grösste Veranstaltung für die neueren Sprachen in der Welt. Ich habe mehrmals an den Jahrestagungen der MLA teilgenommen und darüber fallweise in den Neueren Sprachen (Diesterweg, Frankfurt) berichtet. Die Jahrestagung der MLA ist kein internationaler Kongress, sie befasst sich vorwiegend mit den Problemen des Sprach- und Literaturunterrichts in Nordamerika. Neben den zahlreichen Vorträgen und Referaten, in denen jedes nur denkbare Thema der Neuphilologie behandelt wird, führt die MLA auf ihrer Jahrestagung auch eine Stellenbörse und eine Fachbuchmesse durch. Im Fremdsprachenunter-richt in Amerika rangiert Spanisch an erster Stelle, gefolgt von Französisch und Deutsch. Danach kommen Italienisch, Russisch, Japanisch und Chinesisch. Meine Frau und ich nahmen an der MLA Annual Convention 1989 teil, die vom 27.-30. Dezember in Washington, DC, stattfand. Mein Buch, Jason's Voyage: The Search for the Old World in American Literature, das im Herbst 1989 bei Peter Lang in New York erschienen war, wurde vom Verlag in der Fachbuchmesse ausgestellt.]
Washington gewinnt immer mehr den Eindruck einer wirklichen Hauptstadt, wenn auch vorwiegend der Charakter eines reinen Verwaltungszentrums erhalten geblieben ist. Die Stadterneuerung der letzten zehn Jahre hat die äussere Erscheinung von Washington aufgefrischt. Die alten wie die neuen Museen ziehen jährlich Millionen Besucher aus aller Welt an. Dazu hat sich der Eindruck verstärkt, im Zentrum einer Weltmacht zu sein.
31. Dezember 1989
Das Befreiungsjahr 1989
Die Befreiung Osteuropas von der kommunistischen Alleinherrschaft war so, als hätte sich ein grosses Gefängnis geöffnet. Es sollte nie vergessen werden, dass die Gewinnung der Freiheit das oberste Ziel und kostbarste Gut der umfassenden Demokratie-Bewegung in diesem ereignisreichen Jahr gewesen ist.