Der Mord von Memphis
Der brutale Mord an dem Friendensnobelpreisträger Dr. Martin Luther King, Jr., vom 4. April in Memphis, Tennessee, hat eine Welle der Empörung in allen Bevölkerungsschichten ausgelöst. Eine tiefe und ernste Trauer hat das ganze Land erfasst. Die Gesichter an diesem Gebetssonntag und nationalen Trauertag sind ernster geworden. Ernster aus Erschütterung und dem Gefühl der Schande über das Geschehene sowie der beklemmenden Angst vor der Zukunft. Der Gewaltlosigkeit, die King gepredigt hatte, schien der Boden entrissen zu sein. In blindem Aufruhr wurden in den letzten Tagen die Innenstädte von Washington, DC, Atlanta, Detroit, Chicago und einer Reihe weiterer Orte in Brand gesteckt und geplündert. Es hatte den Anschein, als würde der Bürgerkrieg vor der Tür stehen. Durch den Einsatz der Nationalgarde konnte vorläufig die Ruhe wieder hergestellt werden.
Die Ermordung von Martin Luther King, Jr., ist eine nationale Tragödie, die tiefe Wunden in das ohnedies gespannte Verhältnis zwischen Weiss und Schwarz schlägt. In Martin Luther King hat die schwarze Minderheit in Amerika ihren Märtyrer bekommen.
[Martin Luther King, Jr. (1929-68), Baptist Minister, Präsident der Southern Christian Leadership Conference; King setzte sich für die Bürgerrechtsbewegung nach dem Prinzip der Gewaltlosigkeit ein; er erhielt 1964 den Friedensnobelpreis. 1983 wurde der 15. Jänner, der Geburtstag von Martin Luther King zum nationalen Feiertag in Amerika erklärt.]
8. 18. April 1968
Die Osterreise nach Georgia
[Schon lange im voraus war über die Osterferien eine Reise nach Georgia geplant, um Freunde in Atlanta zu treffen und einen Gastvortrag an der University of Georgia in Athens zu halten.]
Unmittelbar nach dem Mord an Martin Luther King, Jr., mit der Familie in den Süden nach Atlanta zu fahren, schien ein gewagtes Unternehmen. Doch ein bereits zugesagter Vortragstermin an der University of Georgia in Athens liess keine andere Wahl. Die Fahrt mit dem Auto führte durch Indiana, Kentucky, Tennessee nach Georgia, insgesamt über eine Strecke von rund 800 Meilen. Obwohl eine gewisse angespannte Situation fühlbar blieb, war der Süden ausgesprochen ruhig. Es gab keinen Aufmarsch der Nationalgarde, keine Strassenkontrollen oder andere sichtbare Zeichen einer Krisensituation. Der Süden der Vereinigten Staaten ist kein Aufruhrgebiet, Ausschreitungen sind meistens lokaler Natur und das Werk einzelner Fanatiker oder Amokläufer. Als wir am Karfreitag nach Chattanooga in Tennessee kamen, war gerade ein offensichtlicher Amokläufer in das Rathaus gestürmt und hatte den Vizebürgermeister angeschossen. Über die Stadt wurde curfew, eine Ausgangssperre verhängt, aber die Nacht blieb ruhig, und in einem guten Hotel war man als durchreisender Gast sicher aufgehoben. Der Süden war jedenfalls in jenen kritischen Tagen gefasster, ruhiger und in gewisser Hinsicht unbeteiligter, als es die Aussenwelt, insbesondere die Berichterstattung in Europa glauben machte. Eines sollte man nicht aus dem Auge verlieren: Der Süden ist ein Agrargebiet mit einer konservativen, beharrenden Lebensform. In dieser Hinsicht wird sich lange nichts ändern. Tiefverwurzelt in dieser Lebensweise ist die soziale Trennung der beiden Rassen. Obwohl in den grösseren Städten wie in Atlanta bereits beachtliche Fortschritte erzielt worden sind so laden zum Beispiel Weisse und Schwarze in den Supermärkten nebeneinander unbekümmert ihre shopping carts auf, sitzen Weisse und Schwarze nebeneinander in Restaurants und benützen ungestört die öffentlichen Verkehrsmittel -, bleibt zwischen ihnen immer noch eine tiefe soziale Kluft bestehen.
Man sollte aber den amerikanischen Süden nicht allein vom Gesichtspunkt des Rassenproblems beurteilen. Der Süden ist ungemein gastfreundlich, oft von einer vornehmen Lebensführung und aristokratischer Eleganz, wie es sonst in den Vereinigten Staaten selten anzutreffen ist. Atlanta stellt einerseits den Reichtum und Glanz des alten Südens zur Schau, andererseits hat es sich zur modernen Metropole entwickelt. Um das Governor Mansion breitet sich in dieser Jahreszeit ein Wald blühender Azaleen aus, in deren Mitte palaisartige Ansitze stehen. Und im Zentrum der Stadt erhebt sich eine neue skyline, welche dem Rockefeller Center nicht nachsteht.
Der Süden ist mit Erinnerungstafeln an den Bürgerkrieg übersät, dessen Spuren noch überall sichtbar sind. Grosse Teile der Region werden von abgewirtschafteten Landstrichen überzogen. Beispiellose Armut zeigt sich sowohl auf den halbbewirtschafteten Farmen wie auch im Kohlenrevier der Appalachen. Der Ausdruck poverty pocket hat hier eine konkrete Bedeutung, mit der sich künftige Politiker noch auseinandersetzen müssen.
Nachtrag
[Die Aufnahme an der University of Georgia in Athens, das rund 70 Meilen östlich von Atlanta liegt, war Dank der Vermittlung von Professor Horace Montgomery besonders herzlich und freundschaftlich. Professor Paschal Reeves, mit dem mich seit dem Sommer 1964 an der Houghton Library eine enge Zusammenarbeit über Thomas Wolfe verband, führte mich in das English Department ein. Nach dem Vortrag gaben Professor and Mrs. Reeves für meine Frau und mich einen Empfang, den wir nie vergessen werden. Es hatte sich wiederum bewiesen, dass die persönlichen Kontakte von Fachkollegen im akademischen Bereich die geographischen Distanzen und Unterschiede zwischen Amerika und Europa überwinden.]