Die Begegnung mit Arthur Miller
Der wirkliche Arthur Miller ist jedenfalls ganz anders, als man sich ihn vorstellt: Eine grosse, hagere Gestalt, ohne Schriftstellerallüren oder Maniriertheit, homespun, fast simplistisch, aber von zwingender Faszination. Der weltbekannte Dramatiker gab am Notre Dame Campus einen Leseabend. Er las Auszüge aus seinem neuesten, zur Uraufführung in New York vorgesehenen Werk, The Creation of the World and Other Business, eine Schöpfungs- und Sündenfalls-komödie, in welcher der Sündenfall mit amerikanisch-pragmatischem Sinn gestaltet wird. Das ganze hörte sich so an, als hätte Mark Twain den Prolog im Himmel aus Faust neu geschrieben. Das Publikum schüttelte sich vor Lachen, gewann aber doch neue Lebenseinsichten. Wie Miller am nächsten Tag in einer Fragestunde dazu erklärte, gehe es ihm darum, in seinen Dramen dem Leben Sinn zu geben. Bemerkenswert war auch der Ausschnitt aus der Autobiographie, an der Miller derzeit schreibt. Er schildert darin seine Herkunft aus dem New Yorker Ghetto. Sein Vater war als sechsjähriges Kind allein nach Amerika gekommen und im jüdischen Viertel in New York aufgewachsen. Miller schilderte mit einer gewissen Nostalgie, wie Harlem trotz der Armut lebenswert war, wie jüdische mit schwarzen und portorikanischen Familien friedlich nebeneinander wohnten und sich verstanden haben. Vieles von Millers früher Lebenserfahrung in New York ist in sein Werk eingeflossen.
Anmerkung
[Die oben angeführte Autobiographie von Arthur Miller ist als Timebends: A Life 1987 in New York erschienen. Daraus ist zu entnehmen, dass die Familie Miller aus dem polnischen Dorf Radomizl stammte, das zu Ende des 19. Jahrhunderts zu Österreich-Ungarn gehörte. Die Familie war tief im jüdischen Glauben verwurzelt und fühlte sich der deutsch-österreichischen Kulktur verbunden. In den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts war Samuel Miller, der Grossvater des Autors, mit seiner Familie nach Amerika ausgewandert. Da das Geld für die Schiffsfahrkarte fehlte, wurde das jüngste Kind bei einem Onkel zurückgelassen. Später wurde der noch nicht ganz sieben Jahre alte Bub Isidor, der Vater des Autors, allein zur Familie in New York nach-geschickt. Arthur Miller wurde 1915 in New York geboren. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören All my Sons (1947), Death of a Salesman (1949), The Crucible (1953), A View from the Bridge (1955), After the Fall (1964), The Creation of the World and Other Business (1972).]
Chicago, 22. April 1973
Der Blick vom John Hancock Center
An einem klaren Tag bietet das Observation Deck im 94. Stock des noch neuen, erst 1969 eröffneten John Hancock Center einen grandiosen Rundblick. Gegen Norden schweift der Blick den eleganten Lake Shore Drive entlang nach Evanston und über die anschliessenden Vororte hinaus; gegen Westen sieht man noch bis in die offene Prairie; gegen Süden blickt man zuerst voll Staunen über die hochaufragenden neuen Wolkenkratzer, die am North Michigan Boulevard und im Stadtzentrum entstehen, ehe sich der Blick über den Grant Park zum Field Museum of Natural History, das Adler Planetarium, dann das Südufer des Lake Michigan hinunter bis zu den Industrieanlagen von South Chicago und Gary in Indiana öffnet. Schräg dem Hancock Center gegenüber nach Südwesten steht der Bau des 110 Stockwerke hohen Sears Tower, des höchsten Gebäudes der Welt, vor seiner Vollendung. Was sich hier dem Betrachter im Umkreis von 50 Meilen anbietet, ist ein vertrauenerweckender Blick in die Zukunft, denn hier geht das auslau-fende 20. Jahrhundert ganz natürlich in das 21. über. Chicago ist eine progressive, vitale Stadt, die sich fortlaufend erneuert.
The Largest, the tallest, the fastest in the world
Es ist kein Zufall, dass gerade im Raum von Chicago das Attribut the largest, the tallest, the fastest in the world (das grösste, höchste, schnellste in der Welt) zum stolzen Werbeslogan geworden ist, den man an jeder Ecke auf Plakaten sehen kann. Die unternehmungsfreudige Tätigkeit, die sich hier geballt konzentriert, kommt vielfach von Firmen, die zu den grössten ihrer Art in der Welt gehören. Dazu gehören nicht nur der Sears Tower als höchstes Gebäude, O'Hare Airport als der grösste Flughafen, sondern auch der Merchandise Mart als das umfan-greichste Geschäftsgebäude, McCormick Place als grösste Austellungshalle sowie das Museum of Science and Industry als grösstes technologisches Museum der Welt. Diese Entwicklung setzte mit der Weltausstellung von 1893 ein, womit Chicago das Interesse der Welt angezogen hatte. Es entstanden der Reihe nach Unternehmen und Bauten, die als die grössten und höchsten in der Welt galten. Nicht umsonst ist hier die Wolkenkratzerarchitektur entstanden. Bedingt durch seine geographsiche Lage am Südwestende der Grossen Seen entwickeltelte sich Chicago zum grössten Eisenbahnknotenpunkt in der Welt. Die berühmt-berüchtigten stockyards (Schlachthöfe) von Chicago versorgten die grösste fleischverarbeitende Industrie; Sears, Roebuck and Co. wurde das grösste Versandhaus, das Board of Trade Building am Ende der La Salle Street, die Börse von Chicago, zum grössten Getreidehandelsplatz der Welt. Chicago ist ein gutes Beispiel dafür, dass in Amerika die menschliche Tätigkeit und Entfaltungsmöglichkeit neue Dimensionen angenommen haben. Wenn man neu nach Amerika kommt, ist man von dem Überdimensionalen oft überrascht, wenn nicht beklommen. Die Anpassung an die weitgespannte Umgebung dauert eine Weile. Wie ist es zu diesen Megadimensionen in Amerika gekommen? Eine mögliche Antwort darauf ist wohl darin zu sehen, dass die Grösse des Landes und die rasche industrielle Erschliessung des Kontinents dazu herausgefordert haben, in grossen Mass-stäben zu denken und zu handeln.
South Bend, 30. April 1973
Der Skandal: Watergate
Als am 17. Juni vorigen Jahres eine Gruppe übereifriger Republikaner in die Parteizentrale der Demokraten im Watergate Appartementkomplex in Washington eingebrochen war, mutete das Ganze zunächst als eine Farce oder wie ein verspäteter Aprilscherz an. Es wurde als ein Übergriff einer kleinen rechtsradikalen Clique empfunden, der im Wahlkampf keine weitere Bedeutung mehr zugemessen wurde. Erst Monate später explodierte die Affäre zu einem der grössten Skandale, in welchem das Weisse Haus in seiner Geschichte jemals verwickelt gewesen ist. In dem Gerichtsverfahren zur Watergate Affäre ist nun ans Tageslicht gekommen, dass in dem politischen Spionagefall der engste Mitarbeiterkreis des Präsidenten mit im Bunde war. Diese Gruppe von getreuen Gefolgsleuten schreckte in ihrem Übereifer für die Wiederwahl von Richard Nixon vor krimineller Tätigkeit nicht zurück und wurde dann durch ihre Verschleierung-smanöver nur noch mehr schuldig. Als Präsident Nixon heute Abend vor dem Fernsehschirm zur Watergate Affäre Stellung nahm, war ihm anzumerken, dass dies die peinlichste Rede war, die er vor der amerikanischen Öffentlichkleit halten musste. H. R. Haldeman, White House Chief of Staff, und sein engster Mitarbeiter John D. Ehrlichman legten ihr Amt nieder, während John Dean, der persönliche Berater des Präsidenten, entlassen wurde. Attorney General Richard Kleindienst trat zurück, da die Untersuchung des Falles persönliche Freunde betrifft. Was immer aus der Watergate Affäre werden mag, sie wirft einen dunklen Schatten auf die Nixon Adminis-tration und hat das Vertrauen in die Regierung erschüttert. Vor allem wird dadurch das Weisse Haus in Misskredit gebracht.