Das Ende in Sicht
Seitdem es feststand, dass die Vereinigten Staaten militärisch nicht mehr in Vietnam eingreifen werden, war es für Nordvietnam und den Vietcong geradezu eine Einladung, nun aufs Ganze zu gehen. Für alle überraschend kam die mangelnde Verteidigungsbereitschaft in Südvietnam, die zu einem fluchtartigen Zusammenbruch der südvietnamesischen Armee führte. Wie heute der amerikanische Verteidigungsminister, US Secretary of Defense James R. Schlesinger, in dem Fernsehinterview Face the Nation unumwunden zugab, wird die Lage von Südvietnam als aussichtslos betrachtet. Die amerikanische Strategie hat sich bereits darauf eingestellt, was nach dem Fall von Saigon zu tun sei. Alle Kräfte werden derzeit auf die Evakuierung des Botschaftspersonals und sonstiger Personen konzentriert. Die amerikanische Öffentlichkeit steht den Ereignissen in Südostasien teilnahmslos gegenüber.
South Bend, 18. April 1975
Begegnung mit Saul Bellow
Bei einem Empfang in der Residenz des österreichischen Generalkonsuls in Chicago, der zu Ehren der österreichischen Autoren Beatrice Ferolli und Peter von Tramin gegeben wurde, traf ich mit Saul Bellow zusammen. Bellow gilt als einer der führenden Romanschriftsteller der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Er ist von kleiner Gestalt, die fein geschnittenen Gesichtszüge und lebendigen Augen verraten einen regen Intellekt; in seinem Wesen ist er eher verschlossen. Es war nicht leicht, mit Saul Bellow ins Gespräch zu kommen.
[Saul Bellow wurde 1915 in Lachine bei Montreal geboren, wuchs aber in Chicago auf, das vielfach den Hintergrund seiner Romane bildet. Er studierte an der University of Chicago und an der Northwestern University Anthropologie. Zu seinen bedeutenden Werken gehören The Adventures of Augie March (1953), Henderson the Rain King (1959), Herzog (1964), Mr. Sammler's Planet (1970), Humboldt's Gift (1975). Saul Bellow erhielt den Nobelpreis für Literatur 1976.]
South Bend, 19. April 1975
Auftakt zum Bicentennial
Die inszinierte Nachvollziehung des Gefechtes an der Brücke von Concord in Massachusetts gab heute den Auftakt zum Beginn der Bicentennial Celebrations, zur Zweihundertjahrfeier der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776. An der Concord Bridge fielen am 19. April 1775 die Schüsse, welche den Unabhängigkeitskrieg auslösten. Von der North Church in Boston aus wurde auch mit schwingenden Laternen in der vergangenen Nacht Paul Revere's Ride, der Ritt von Paul Revere nach Lexington wiederholt. Der Siberschmied Paul Revere ritt in der Nacht vom 18. auf den 19. April 1775 die zehn Meilen von Boston nach Lexington und warnte mit lauter Stimme, dass die Briten kommen. General Thomas Gage, der Gouverneur von Massachusetts, hatte in jener Nacht in einem Überraschungsmanöver ein Truppenkontingent entsandt, um in Lexington die Anführer der Rebellen Samuel Adams und John Hancock zu verhaften und in Concord ein Waffendepot auszuheben. Als die britischen Truppen im Morgengrauen Lexington erreichten, waren Adams und Hancock längst geflohen und die Umgebung alarmiert. Eine Gruppe von minutemen* stellte sich den Rotröcken an der Brücke von Concord. Bald wurden die britischen Truppen von allen Seiten überfallen. Sie mussten sich unter schweren Verlusten nach Boston zurückziehen. Von da an nahm der Unabhängigkeitskrieg seinen unaufhaltsamen Lauf. Zweihundert Jahre nach den Ereignissen von Concord und Lexington beginnen nun in Amerika die umfangreichen Vorbereitungen für das Bicentennial 1976.
*[Die zur Legende gewordenen minutemen waren Freiwillige im Unabhängigkeitskrieg, die jeder Zeit auf die Minute kampfbereit zur Verfügung standen.]
South Bend, 20. April 1975
Ratlosigkeit
Amerika steht der sich anbahnenden Katastrophe in Saigon ratlos gegenüber. Sollen jene Südvietnamesen, welche in amerikanischen Diensten standen man spricht von 200.000 bis zu einer halben Million mit den eigenen Staatsbürgern evakuiert werden? Was soll mit den rund 2 Millionen Katholiken und Christen anderer Glaubensgemeinschaften, die vom Norden in den Süden flüchteten, geschehen? Wieviele Flüchtlinge kann Amerika überhaupt aufnehmen?
21. April 1975
Unter dem Druck der Ereignisse hat heute Präsident Nguyen Van Thieu abgedankt. Das bedeutet das Ende des freien Südvietnam.
29. April 1975
Ein Ende mit Schrecken
Heute hat Saigon die bedingungslose Kapitulation angeboten. Nur wenige Stunden danach erfolgte die Übergabe der Stadt an Nordvietnam und den Vietcong. Was sich vor der Kapitulation zugetragen hat, war ein Ende mit Schrecken. Aus den letzten Bildern, die im Fernsehen übertragen wurden, konnte man sehen, wie sich Menschen noch in letzter Minute in die amerikanische Botschaft retten wollten. Nur ein Bruchteil von ihnen konnte mit Hubschraubern ausgeflogen werden. Dann brach alles zusammen, es trat das komplette Chaos ein. Die Botschaft wurde die Beute eines zügellosen Mobs.
30. April 1975
Ho Chi Minh City
Das siegreiche Nordvietnam hat keine Zeit versäumt. Kaum hatten ihre Panzerspitzen den Regierungssitz erreicht und die Kapitulation entgegengenommen, als schon die Stadt Saigon in Ho Chi Minh City umgetauft wurde. Um ihren Triumph zu dokumentieren, sollte auch der Name der Rivalin aus dem Gedächtnis gestrichen werden.