University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


South Bend, 3. August 1980

[Nach ihrer Graduierung von Notre Dame heiratete unsere Tochter Christine anfangs August. Ihr Bräutigam hatte im Vorjahr von Notre Dame graduiert. Als Student an der Law School der University of St. Louis strebte er den Beruf des Rechtsanwaltes an.]

Etikettenbewusstsein

Die amerikanische Gesellschaft ist in vieler Hinsicht sehr etikettenbewusst. Das tritt besonders bei Hochzeiten in Erscheinung, wobei vielfach englische Gepflogenheiten übernommen werden. Dies betrifft sowohl die stilisierte Form der Einladung, die Kleidung, das “rehearsal dinner” am Vorabend vor der Hochzeit als auch die “reception,” den Empfang unmittelbar nach der Trauung. Es ist genau festgelegt, was die Eltern der Braut und die Eltern des Bräutigams zu tun haben. Junge Leute, die man sonst nur in “blue jeans” und “T-shirts” sieht, sind plötzlich formell gekleidet. Die “bridesmaids” (Brautjungfern), meistens Freundinnen der Braut, zeigen sich in den schönsten aufeinander abgestimmten Kleidern. Die jungen Männer, welche dem Bräutigam als “groomsmen” zur Seite stehen, tragen Tuxedos. Eine Woche lang folgt der Ablauf einer Hochzeit nach einem vorgeschriebenen Zeremoniell. Durch die Heirat unserer Tochter sind wir plötzlich Teil einer grossen amerikanischen Familie geworden. Erst wenn eines der eigenen Kinder in eine amerikanische Familie heiratet, wird der Anpassungsprozess an die amerikanische Gesellschaft vollkommen vollzogen.

[Anfang August] 1980

[Nach der Hochzeit mussten meine Frau und ich uns zunächst einmal erholen. Auf der Fahrt an den Strand von Myrtle Beach an der Atlantikküste von South Carolina blieben wir in Asheville, North Carolina, stehen, um das Geburtshaus von Thomas Wolfe (1900-38) zu besuchen. Bei dieser Gelegenheit konnten wir auch den westlich von Asheville gelegenen, schlossartigen Ansitz Biltmore House besichtigen.]

Auch Amerika hat seine Schlösser

Die vollkommenste Nachbildung eines französischen Schlosses in Nordamerika steht in Asheville, North Carolina. Biltmore House wurde von George W. Vanderbilt 1890-95 gebaut. Als Vorbild dienten die Loire Schlösser Chambord und Blois. Am Fusse der Great Smoky Mountains und von Mt. Pisgah gelegen, bietet Biltmore House einen ergreifenden Ausblick. Es ist mit erlesenem Geschmack im Stil des späten Mittelalters und der Renaissance ausgestattet. Holländische Tapisserien zieren die Wände, wertvolle Stiche von Dürer hängen in den Nischen, ein Kunstschnitzer aus Wien verfertigte die Täfelungen. Aus einem italienischen Palazzo wurde die barocke Freskendecke abgehoben und in der Bibliothek so geschickt aufmontiert, dass man die transatlantische Verpflanzung dieser Freskenmalerei vergessen könnte.

Biltmore House ist mehr als eine Kuriosität. Es ist ein amerikanischer Kunstausdruck am Ende des 19. Jahrhunderts, der ganz im Bann europäischer Vorbilder stand. Es ist ein Schloss in der Wildnis, das durch seine Anlage und Pracht überrascht. Nach innen betrachtet, erzeugt es eine perfekte Illusion eines europäischen Ambiente. Aber nach aussen hin steht es im leeren Raum, nur von der Natur umgeben und einen Tagesritt von der nächsten “Cherokee Indian Reservation” entfernt.

[Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind einige Dutzend solcher schlossähnlichen Ansitze in den Vereinigten Staaten entstanden, die nun als Museen der Öffentlichkeit zugänglich sind. Dieser eklektisch-historisierende Baustil ging hauptsächlich von Richard Morris Hunt (1828-95) aus, der auch Biltmore House und Estate entworfen hatte.]


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