Das deutsche Dilemma
Wie eine schwärende Beule ist das deutsche Dilemma wieder aufgebrochen. Da DDR-Staatsratsvorsitzender Erich Honecker den bereits festgesetzten Besuch in der BRD abgesagt hat, wurde eine verschärfte Debatte über den Rechtsstatus der beiden deutschen Staaten ausgelöst. Im deutschen Bewusstsein besteht in dieser Hinsicht ein fundamentaler Widerspruch. Die Bundesrepublik kann sich auf die Präambel des Grundgesetzes stützen, die ihr das alleinige Vertretungsrecht für das deutsche Volk zuspricht, was auch die Länder Ostdeutschlands miteinschliesst. Die DDR behauptet dagegen, ein eigener souveräner Staat zu sein, der gleichberechtigt neben der BRD stehe. Bundeskanzler Helmut Kohl hat in einem Fernsehinterview in seinem Urlaubsort in St. Gilgen am Wolfgangsee mit Zuversicht geäussert, dass die Berliner Mauer noch zu seinen Lebzeiten fallen und die Wiedervereinigung zustandekommen werde. DDR-Aussenminister Fischer erklärte dagegen zynisch lapidar, dass zwei deutsche Staaten bestehen, und damit die deutsche Frage gelöst sei.
[Mitte September] 1984
Herbstmanöver
Auf beiden Seiten des Einsernen Vorhangs werden auch heuer wieder Herbstmanöver durchgeführt. Zum Unterschied von den Vorjahren sind dies jedoch die grössten Manöver der NATO und der Warschauer-Pakt-Staaten, die bisher stattgefunden haben. Auf der ohnedies überlasteten Autobahn von München nach Stuttgart fährt man dieser Tage an endlosen Kolonnen von Armee-Fahrzeugen aller Schattierungen vorbei. Während die NATO massiv im süddeutschen Raum agiert, lassen die Warschauer-Pakt-Staaten ihre Truppen konzentriert in Ungarn und der Tschechoslowakei aufmarschieren. Solange diese Übungen Sandkastenspiele bleiben, sind sie nicht aufregend. Den Ernstfall könnte man sich aber auch nicht mit der angestrengtesten Phantasie vorstellen. Möge es nie dazu kommen.
Innsbruck, 26. September 1984
Um der Freiheit willen
Fast täglich dringen Berichte an die Öffentlichkeit, wie Menschen aus den Oststaaten unter Einsatz ihres Lebens in den Westen zu fliehen versuchen. Dabei kommt es oft zu erschütternden Tragödien. Vor elf Tagen flüchtete eine 5-köpfige tschechische Familie aus Brünn über Jugoslawien nach Österreich. Als sie bei Radkersburg die Mur zu überqueren versuchte, wurde ein Teil von ihnen abgetrieben. Während ein 15-jähriges Mädchen mit ihrer 3-jährigen Schwester das österreichische Ufer erreichte, ertranken die Mutter und die 6-jährige Tochter. Vom Vater fehlt jede Lebensspur. Drei polnische Flüchtlinge, die sich in einen Container einsperrten, hätten leicht ersticken können, ehe sie österreichischen Boden erreichten. Eine weitere tschechische Familie wagte es ebenso, die Mur zu überqueren. Dabei musste die Frau umkehren. Aus humanitären Gründen erlaubten ihr die jugoslawischen Behörden die Ausreise. Wie gross muss die Verzweiflung dieser Menschen sein, dass sie um der Freiheit willen bereit sind, so ihr Leben aufs Spiel zu setzen.
29. September 1984
Kontraste
Während in der Stadt Memmingen die alte Stadtmauer aufgebaut, wie überhaupt eine höchst gefällige Altstadtsanierung mit Fussgängerzone durchgeführt wird, rasen über den Allgäuer Himmel die Abfangjäger der Bundeswehr. Auf der einen Seite wird mit Sorgfalt eine mittelalterliche Idylle erhalten, und auf der anderen greift das Tempo der modernen Technik ein. Letztere erscheint vielfach auf einen Rahmen aufgesetzt, den sie sprengen möchte. Dieser Kontrast ist eine in ganz Europa feststellbare Erscheinung: Eine aus früheren Jahrhunderten übernommene Bausubstanz und Lebensform, die sich mit den Anforderungen der robust vordringenden technischen Erneuerungen zurechtfinden muss.
Im süddeutschen, bayerischen Raum kommen diese Kontraste besonders starkt zum Ausdruck. Hier ist neben der Autobahn und der Industrie eine Landschaftsidylle entstanden, wie man sie sonst selten wiederfindet. Dazu gehören die bilderbuchartigen Dörfer mit ihren zwiebelförmigen Kirchtürmen, die grünen Weiden mit den Alpen als Kulisse im Hintergrund, die Königsschlösser Neuschwanstein und Linderhof, die Wies, die Klöster Ottobeuren und Ettal, sowie Tegernsee und Garmisch-Partenkirchen. Diese Plätze sind Zufluchtstätten vor der Hast des modernen Lebens geworden.