Der Krieg der Nerven
Nach dem Bombenanschlag vom 5. April auf eine Diskothek in Westberlin, bei dem offensichtlich Libyen die Hand im Spiele hatte, wollen die Stimmen nicht mehr verstummen, dass die USA einen militärischen Vergeltungsschlag durchführen werden. Ein Krieg der Nerven ist ausgebrochen. Wird nun auch das westliche Mittelmeer zum Kriegsschauplatz? Welche Auswirkungen würde ein solches Vorgehen auf Europa haben?
13. April 1986
Eine Geste der Versöhnung
Johannes Paul II. hat als erster Papst heute die Synagoge von Rom betreten, die nur eine Meile vom Vatikan entfernt steht. Damit wurde eine bedeutende Geste der Versöhnung zwischen der katholischen Kirche und der jüdischen Religion gesetzt, die jahrhundertealte Vorurteile und gegenseitiges Misstrauen abbauen soll. In diesem historischen Augenblick standen Juden und Christen als Brüder und Schwestern einer gemeinsamen Glaubensüberlieferung vereint beisammen.
South Bend, 14. April 1986
Retaliation - der Vergeltungsschlag
Gegen 8 Uhr abends wurde über die Nachrichtenvermittlung bekannt, dass eine Stunde vorher, bzw. ca. 2 Uhr früh Ortszeit, US-Kampfflugzeuge, die von Stützpunkten in England aus gestartet waren, Ziele in Libyen angegriffen haben.
Eine Stunde danach, i.e. 9 p.m. EST, hat Präsident Reagan über das Fernsehen zur amerikanischen Nation gesprochen und eine ernste Erklärung über seine Entscheidung, gegen Libyen einen Vergeltungsschlag durchzuführen, abgegeben. Demnach liegen unwiderruflich Beweise vor, dass das libysche Regime den Bombenanschlag auf die Diskothek in Westberlin geplant hatte. Bei diesem Terrorakt wurde ein Amerikaner getötet und mehr als 50 verletzt. Reagan betonte, dass die USA aus Selbstverteidigung gehandelt haben.
In dem anschliessenden Presseinterview im Weissen Haus erläuterten Aussenminister Shultz und Verteidigungsminister Weinberger die Lage. Dabei wurde die Entschlossenheit der Vereinigten Staaten hervorgehoben, wenn notwendig, auch in Zukunft Terrorakte durch militärischen Einsatz zu beantworten.
15. April 1986
Die Reaktion
Während der überwiegende Teil der amerikanischen Bevölkerung das Vorgehen von Präsident Reagan gegen Libyen gutheisst, wenn auch mit einem Gefühl des Unbehagens, so ist die Reaktion des Auslandes eine einzige Entrüstung. Bedauerlicherweise wird durch den libyschen Konflikt wiederum ein tiefer Graben des Missverständnisses zwischen den Vereinigten Staaten und ihren europäischen Verbündeten aufgerissen. Die europäische Besorgnis ist allerdings verständlich.
19. April 1986
Touristenausfall
Die jüngste, im Wesentlichen auf Amerikaner abgezielte Terrorwelle in Europa, hat begreiflicherweise Angst und Unsicherheit im amerikanischen Tourismus ausgelöst. Ungeführ 50% der gebuchten Flüge nach Europa wurden abgesagt. Laut Time Magazin vom 21. April, das soeben aufliegt, haben im Spitzenjahr 1985 6.4 Millionen Amerikaner Europa besucht und dabei 7 Milliarden Dollar ausgegeben. Für heuer wird ein Rückgang von 25% prognostiziert.
30. April 1986
Die Atomkatastrophe
Es hat ein paar Tage gedauert, bis das volle Ausmass der Atomkatastrophe in der Nähe von Kiew voll ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gerückt ist. Ca. 100 km nördlich von Kiew bei Tschernobyl ist von Samstag auf Sonntag ein Atomreaktor durchgebrannt, sodass es zu dem gefürchteten meltdown des Uraniums und des Graphit-Blocks gekommen ist, wobei grosse Mengen von radioaktiven Strahlen in die Atmosphäre eingedrungen sind. Das Unglück wurde erst bekanntgegeben, als in Schweden ein plötzlicher Anstieg des Radioaktivitätsgehalts in der Atmosphäre festgestellt wurde. Die Windströmung hatte zunächst die Strahlung über Polen nach Schweden getragen. Inzwischen brennt das Feuer im Reaktor von Tschernobyl bei ca. 3.000 Grad F unkontrolliert weiter. Man steht ziemlich hilflos dabei, ohne zu wissen, wie dem atomaren Feuer beizukommen ist.
[Das Unglück im Kernkraftwerk Tschernobyl hatte sich am 26. April 1986 ereignet. Bei einem Experiment im 4. Reaktorblock waren bei ungenügenden Sicherheitsvorkehrungen die Brennstäbe ausser Kontrolle geraten, sodass der Reaktor explodierte. Durch die Explosion wurden grosse Mengen von radioaktiven Strahlen in die Atmosphäre freigesetz. Der Brand konnte erst nach 10 Tagen eingedämmt werden.]
Von offizieller Seite wurden nur 2 Todesfälle zugegeben, man vermutet aber, dass die Zahl in die Hunderte gehen könnte. Im Raum von Kiew soll es zu fluchtartigen Evakuierungen gekommen sein. Heute hat die geänderte Windströmung die radioaktiven Strahlen über Ungarn nach Österreich, Süddeutschland und in die Schweiz getragen. In Europa ist eine panikartige Stimmung ausgebrochen. Familien werden angewiesen, Kinder nicht auf die Strasse zu lassen. Vor dem Genuss von Milch und frischem Gemüse wird gewarnt. Noch unfassbar ist der Gedanke, dass durch einen Betriebsunfall in einem Atomkraftwerk ein ganzer Kontinent in Mitleidenschaft gezogen werden kann.