University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


[Von Ende Mai bis Ende Juli 1989 verbrachten meine Frau und ich die Sommerferien in Innsbruck.]

Innsbruck, 2. Juni 1989

Die Europareise war ein Erfolg

Präsident George Bush ist heute von seiner siebentätigen Europareise – mit Stationen in Rom, Brüssel, Bonn und London - nach Washington zurückgekehrt. Die Europareise war ein Erfolg. Bush konnte die Zusammenarbeit mit den europäischen Verbündeten stärken und mit dem Abrüstungsvorschlag in Brüssel die Initiative des Westens wieder an sich reissen.

Nach dem Treffen der Mitgliedstaaten der NATO in Brüssel begab sich Präsident Bush unmittelbar nach Bonn. Bundeskanzler Helmut Kohl begleitete seinen Gast auf einem Ausflugsschiff den Rhein hinauf nach Mainz. In der Rheingoldhalle in Mainz gab Bush eine Grundsatzerklärung ab. Er festigte die deutsch-amerikanische Freundschaft und räumte der Bundesrepublik eine Führungsrolle innerhalb des westlichen Bündnisses ein. Er wiederholte die Forderung Reagans, die Berliner Mauer abzureissen, und meinte, dass Glasnost auch auf Ostdeutschland Anwendung finden sollte. Indem er auf das Beispiel der österreichisch-ungarischen Grenze hinwies, wo derzeit der Stacheldraht abmontiert wird, rief er die Länder entlang des Eisernen Vorhangs auf, das Gleiche zu tun, und ermutigte sie, den begonnenen Prozess der Demokratisierung fortzusetzen.

Innsbruck, 4. Juni 1989

Das Massaker

Trotz Nachrichtensperre kommen über den europäischen und österreichischen Nachrichtendienst laufend Meldungen von den Unruhen in Peking durch. Die Demonstrationen auf dem Tiananmen Platz sind nicht zur Ruhe gekommen. Nach dem Wirrwarr der letzten Tage hat offensichtlich die harte Linie innerhalb der chinesischen Regierung die Oberhand gewonnen. Es wurde dem Militär Befehl gegeben, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Die Folgen des harten Durchgreifens sind ärger, als man es sich vorstellen kann. Heute kam es zum Massaker auf dem Tiananmen Platz, als Truppen der Volksarmee wahllos in die Menge der Demonstranten schossen. Panzerfahrzeuge rasten durch die Stadt und eröffneten das Feuer auf wehrlose Zivilisten. Die Nachrichtenmeldungen sprechen von Tausenden von Verletzten und Toten. Ähnlich wie beim Prager Frühling wurde der Ruf nach mehr Freiheit brutal niedergeschlagen. Die so hoffnungsvoll begonnene Reformbewegung in China und deren Öffnung zur Welt haben ein jähes Ende genommen.

Innsbruck, 7. Juni 1989

Auflösungserscheinungen

Fassungslos und mit Unbegreifen verfolgt die Weltöffentlichkeit die Ereignisse in China. Die Berichte vom rücksichtslosen Vorgehen der Armee gegen wehrlose Zivilisten, von einem unbeschreiblichen Chaos, vom fluchtartigen Verlassen der Ausländer aus Peking überschlagen sich. Steht China vor einem Bürgerkrieg? Die Vermutungen verdichten sich, dass Einheiten der Volksarmee aufeinander schiessen. Die politische Führung ist so zerteilt, dass Zweifel über ihre Regierungsfähigkeit aufkommen. Eines steht jedenfalls fest: Dieses Riesenreich, in dem ein Fünftel der Menschheit lebt, wird nach diesen Ereignissen nicht mehr dasselbe sein. Man hat sich bisher nie recht vorstellen können, wie der Weltkommunismus einmal enden wird. Die Ereignisse in China sowie die Vorgänge in der Sowjetunion und in den kommunistischen Ländern in Osteuropa deuten auf innere Auflösungserscheinungen hin. Plötzlich ist klar geworden, dass der Weltkommunismus praktisch vor dem Ende steht. Sein Ende wird nicht durch Eroberung von aussen, sondern durch einen rasch um sich greifenden Auflösungsprozess von innen herbeigeführt. Der Reformkurs von Gobatschow hat dazu den auslösenden Impuls gegeben. Es ist im gesamten kommunistischen Machtbereich eine nicht mehr aufzuhaltende Reformbewegung hin zur Demokratie im Gange.

Innsbruck, 12./13. Juni 1989

Gorbatschow in Bonn

Der Staatsbesuch von Mikhail Gorbatschow in Bonn hat eine entscheidende Wende in den deutsch-sowjetischen Beziehungen herbeigeführt. Gorbatschow wird zur Zeit in der Bundesrepublik mit einer derart stürmischen Begeisterung aufgenommen, dass man von einer Gorbi-Manie sprechen könnte. Die Hoffnungen, die auf seinen Reformkurs gesetzt werden, sind gross. Man erwartet sich von der Begegnung zwischen Gorbatschow und Bundeskanzler Kohl nicht nur eine weitere Entspannung im Dialog mit der Sowjetunion, sondern im Fernziel eine Lösung der deutschen Frage. Nicht zu Unrecht wird der Schlüssel zur Lösung der deutschen Frage in Moskau erwartet. Aber wie weit ist Gorbatschow bereit zu gehen, bzw. wie weit kann er es wagen zu gehen, ohne die DDR in die Defensive zu drängen und damit den Ostblock zu destabilisieren. Gorbatschow verhält sich vorsichtig. Er wünscht sich eine Neuordnung Europas, die eine Auflösung der beiden Machtblöcke (Warschauer Pakt und NATO) und eine Annäherung von Ost- und Westeuropa zum Ziele hat. Vor allem braucht er im Augenblick die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik, um seine Perestroika durchführen zu können.

Innsbruck, 16. Juni 1989

Rehabilitiert

Ein seltsames Schauspiel trägt sich heute in Ungarn zu. Der frühere Ministerpräsident Imre Nagy sowie seine Mitstreiter, die nach der Niederschlagung des Ungarischen Aufstandes im November 1956 festgenommen, schliesslich 1958 hingerichtet und in einem Massengrab verscharrt worden waren, werden nun in einem feierlichen Staatsbegräbnis beigesetzt. Die Rehabilitierung von Imre Nagy nach 33 Jahren bedeutet die Neubelebung seines Reformkurses sowie das Wiederaufgreifen der Ziele der Ungarischen Revolution von 1956. Wie damals unter Nagy fördert die neue Regierung in Budapest liberale Wirtschaftsreformen und ein Mehrparteien-system. Es wird auch vom Austritt aus dem Warschauer Pakt und von einer möglichen Neutralisierung Ungarns gesprochen. Mit gewissem Bangen kann man sich fragen, ob diesmal die Reformen und die überraschende Entwicklung hin zur Demokratie in Ungarn gelingen werden. Erschütternd sind die Bilder aus Budapest, wo Tausende von Menschen Kränze an der Bahre von Imre Nagy niederlegen. Dieser Tag bedeutet für Ungarn die Versöhnung mit einer nationalen Tragödie.

Innsbruck, 26. Juni 1989

Der EG-Gipfel

Auf dem derzeitigen Gipfeltreffen der Europäischen Gemeinschaft in Madrid werden für die europäische Integration entscheidende Themen diskutiert. Es geht um die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung und die Kompetenzen einer europäischen Zentralregierung. Während die Einführung einer Europa-Währung in den Bereich der Möglichkeit gerückt ist, bleibt die Etablierung einer europäischen Zentralregierung ein kaum realisierbares Fernziel. Ihr stehen die jahrhundertealten Traditionen der Nationalstaaten entgegen. Ein konföderatives Europa der Vaterländer ist dagegen eher vorstellbar.

Österreichs Brief nach Brüssel

Heute ist eine Parteienvereinbarung zwischen SPÖ und ÖVP in der für Österreich lebenswichtigen Frage des Beitritts zur EG erzielt worden. In dem Brief nach Brüssel mit dem Beitrittsantrag Österreichs zur EG wird festgehalten, dass der Beitritt die Neutralität Österreichs nicht beeinträchtigen darf. Auch sollen Einschränkungen beim Erwerb von Grund und Boden durch Ausländer bestehen bleiben. Die bevorstehenden Verhandlungen über den Beitritt Österreichs zur EG sind wohl die wichtigsten, über die das Land seit dem Staatsvertrag von 1955 zu entscheiden hat. Über den endgültigen Beitritt muss noch eine Volksbefragung durchgeführt werden.


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