University of Notre Dame
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The Story of Notre Dame


Amerika - Europa

Ein transatlantisches Tagebuch 1961 - 1989

Klaus Lanzinger


Innsbruck, 11. Juli 1989

Die Umweltkatastrophe

Eine Umweltkatastrophe grossen Ausmasses zeichnet sich derzeit an der nördlichen Adria ab. Von Venedig bis Ancona, entlang den bekannten Strandanlagen der Emilia Romagna - Milano Maritima, Cervia, Rimini, Riccione und Senigallia - hat sich der schlammige Teppich der sog. “Algen-Pest” ausgebreitet. Die Behörden haben vor dem Baden abgeraten, da der Schlamm nicht nur unappetitlich, sondern auch gesundheitsschädlich ist. Damit kommt das Strandleben entlang der Adria weitgehend zum Stillstand, was einen enormen wirtschaftlichen Schaden für eine ganze Region mit sich bringt. Ausgelöst wurde diese Wucherung durch die Industrieabwasser im Po, die sich im breiten Mündungsgebiet zwischen Venedig und Ravenna in die Adria ergiessen. Dazu kommt noch die Menge an Kunstdünger, die ebenso über das Abwasser ins Meer fliesst. Wenn nicht rasche Hilfsmassnahmen ergriffen werden, droht die Adria durch die Algen abzusterben.

Innsbruck, 12. Juli 1989

Präsident Bush in Budapest

In seiner heutigen Rede an der Karl-Marx-Wirtschaftsuniversität in Budapest sprach Präsident Bush den Ungarn Mut zu. Er beglückwünschte das Land zum gegenwärtigen Reformkurs und bot dazu konkrete Hilfe an. Bush trat offen für die freie Marktwirtschaft ein und stellte für Ungarn die Meistbegünstigungsklausel im Handel mit Amerika in Aussicht. Amerika werde Ungarn unterstützen, sobald die Voraussetzungen für private Investitionen geschaffen sind. Er sagte amerikanische Unterstützung bei der Bewältigung des Umweltschutzes zu. Weiters wurde auch ein Kulturaustausch zwischen Amerika und Ungarn angeregt. Insgesamt waren aber die amerikanischen Hilfsmassnahmen, die Bush den Ungarn versprach, mässig und wenig verpflichtend.

[Auf dem Weg zum G-7 Gipfel, der 1989 aus Anlass der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution in Paris stattfand, machten Präsident Bush und seine Mitarbeiter zuerst einen Abstecher nach Warschau und Budapest, um sich selbst ein Bild von der immer intensiver umsichgreifenden Reformbewegung machen zu können, und um amerikanische Unterstützung anzubieten. Was sie in Polen und Ungarn sahen, war viel weiter fortgeschritten, als sie angenommen hatten. Bush und sein Beraterteam verhielten sich jedoch massvoll zurükhaltend, um nicht die “hard liners” in den kommunistischen Regimen zu voreiligen Handlungen herauszuforden. Die Ereignisse vom Tiananmen Square waren eine Warnung. Siehe dazu George Bush und Brent Scowcroft, A World Transformed (New York: Vintage Books, 1999, pp. 112-131). Brent Scowcroft war National Security Adisor unter der Bush Aministration.]

Innsbruck, 14. Juli 1989

Le bicentenaire

In einer Monsterschau der Superlative begeht Frankreich das “bicentenaire,” die 200-Jahr-Feier der Französischen Revolution. Die umfangreichen wie aufwendigen Feierlichkeiten erreichten heute mit der grossen Militärparade vom Arc de Triomphe die Champs-Élysées hinunter zum Place de la Concorde ihren Höhepunkt. Diese 200-Jahr-Feier ist ein Triumph für Staatspräsident Francois Mitterand. Neben den Staats- und Regierungschefs der G-7, der sieben führenden Industrienationen hatten unter anderen auch 20 Staatsoberhäupter aus dem frankophonen Afrika an den Feierlichkeiten teilgenommen. Paris ist um einige Wahrzeichen reicher geworden. Dazu gehören das neue Opernhaus am Platz der Bastille sowie die Glaspyramide von I. Ming Pei am Eingang zum Louvre. Rund eine Million Menschen säumten die Champs- Élysées, um den fulminanten Festumzug zu sehen. Das “grand spectacle” dauerte bis nach Mitternacht. Unvergesslich bleibt der Eindruck von Jesse Norman, die mit ihrer gewaltigen Stimme die Marseillaise sang. Es war Frankreichs Tag, an dem die Welt teilgenommen hatte.

Der Sturm auf die Bastille vom 14. Juli 1789 geschah 13 Jahre nach der amerikanischen Unabhägigkeitserklärung. Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg von 1776-83 hatte seinen Einfluss auf die Ereignisse in Paris gehabt. Die Französische Revolution war ein welthistorisches Ereignis, eine Zeitenwende, deren Auswirkungen noch bis heute spürbar geblieben sind. Die Staats- und Regierungschefs der G-7 (Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Grosbritannien, Italien, Japan, Kanada und die USA) haben am heutigen Jahrestag des Beginns der Französischen Revolution in Paris eine Erklärung unterzeichnet, in der sie sich erneut auf die Garantie der Menschenrechte verpflichteten. Die G-7 Konferenz nahm besonders auf die Vorgänge in Osteuropa Bezug.

Innsbruck, 19. Juli 1989

A Europe Whole and Free

George Bush war, wie der Wahlkampf im vorigen Herbst gezeigt hatte, nie grossen Zukunftsvisionen zugeneigt. Doch die jüngsten Ereignisse in den Ostblockstaaten haben auch ihm Visionen von einem künftigen freien Europa aufgedrängt. In seiner Rede in Leiden in den Niederlanden sah er ein Europa “whole and free” voraus, eine neue Welt, die in greifbare Nähe gerückt sei. Er prophezeite: “The Europe behind the wall will join its neighbors to the West, prosperous and free. ” (Das Europa hinter der Mauer wird sich seinen Nachbarn im Westen anschliessen, in Wohtstand und frei.) [Herald Tribune, 18. Juli 1989.]

Anmerkung

[Ende der 80er-Jahre standen sich zwei verschiedene Auffassungen von einem künftigen Europa gegenüber: Michael Gorbatschow trat für ein blockfreies, weitgehend entmilitarisiertes Europa ein, in dem die kommunistischen und demokratischen Länder friedlich nebeneinander leben. Wie er vor dem Europarat in Strassburg am 6. Juli 1989 betont hatte, sollten beide politischen Systeme in dem gemeinsamen Haus Europa Platz haben. George Bush hatte sich dagegen auf “a Europe whole and free” festgelegt, d.h. auf ein ganzes, demokratisch freies Europa, das unter dem Schutz der NATO steht. Die dynamische Entwicklung Ende 1989 und anfgangs 1991 bewegte sich unaufhaltsam auf die letztere Lösung zu.]

Luzern, 29. Juli 1989

Die Alte und die Neue Welt

Einen grösseren Kontrast könnte man sich nicht vorstellen, als am Vorabend in Luzern zu übernachten und am nächsten Tag in Chicago zu landen.

Hier in Luzern die prachtvolle Altstadt, die noch bequem im Mittelalter ruht. Auf gedeckten Holzbrücken aus dem 14. und 15. Jahrhundert geht man beschaulich über die Reuss. Die Kapellbrücke mit ihren historischen Tafelbildern und der massive Wasserturm dienen als Wahrzeichen der Stadt. Das alte Rathaus mit seiner bunt bemalten Renaissancefassade blickt über den Kornmarkt, wo von alters her ein reger Kleinhandel blüht. Auf dem Vierwaldstätter See ziehen die kleinen Ausflugsdampfer gemächlich ihre Bahnen. Alles ist auf ein minitiöses Mass abgestellt, zu Fusswanderungen und ruhiger Betrachtung einladend. Stadt und Landschaft vereinen sich zu einer zauberhaften Idylle. Und am Abend hinterlassen die Ringmauer und beleuchteten Befestigungstürme einen Eindruck von geradezu märchenhafter Schönheit.

Dort in Chicago kommt man in der pulsierenden Millionenstadt mit ihrer faszinierenden Skyline an. Auch Chicago hat als Wahrzeichen einen Wasserturm. Aber der neugotische Turm, welcher im grossen Feuer von 1871 verschont geblieben war, steht als einsames Relikt am Water Tower Place ringsum von Wolkenkratzern eingeschlossen. Über die Zugbrücke am Chicago River strömt pausenlos der Strassenverkehr. Der Kornmarkt von Chicago hat sich zum grössten Umschlagplatz für Getreide in der Welt entwickelt. Der Lake Michigan mit seiner Industriezone und dem Binnenhafen im Süden erstreckt sich gegen Norden in eine endlose Naturlandschaft. Aber die Ausflugsdampfer sind schon längst eingestellt worden. Die Masse erscheinen dort ins Überdimensionale gesteigert, der ganze Lebensrhythmus ist bereits auf das 21. Jahrhundert eingestellt.

Wenn man Luzern und Chicago unmitelbar nacheinander erlebt, sticht der Unterschied zwischen der Alten und der Neuen Welt so stark in die Augen, wie er deutlicher nicht sein könnte.


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